Ruf mich bei Deinem Namen
schleppten sich mit gewaltigen Rucksäcken, ein paar
Betrunkene und die üblichen Drogendealer lungerten herum. Oliver hielt einen Straßenhändler an und kaufte mir ein Lemonsoda. Der Geschmack der bitteren Limonen war erfrischend,
danach fühlte ich mich besser. Für sich kaufte Oliver eine Bitterorangen-Limonade und einen Schnitz Wassermelone, er wollte mich beißen lassen, aber ich lehnte ab. Wie wunderbar,
halb betrunken mit einer Lemonsoda in einer schwülen Nacht über die glänzenden Kopfsteinpflaster Roms zu laufen und seinen Arm auf der Schulter zu spüren. Wir bogen nach links
ab und hörten unvermutet jemand eine Gitarre zupfen und dazu singen – eine sehr alte neapolitanische Weise, Fenestra ca lucive . Ich überlegte
einen Augenblick, dann erkannte ich das Lied.
Mafalda hatte es mir beigebracht, als ich noch ein kleiner Junge war. Es war ihr Wiegenlied. Ich kannte Neapel kaum und hatte abgesehen von ihr und ihrer unmittelbaren Gefolgschaft und ein paar
Stippvisiten mit meinen Eltern nie Kontakt mit Neapolitanern gehabt. Doch die melancholischen Klänge weckten in mir eine so unbändige Sehnsucht nach verlorener Liebe, nach Dingen, die ich
im Lauf der Zeit verloren hatte, nach Leben wie dem meines Großvaters, die lange vor dem meinen da gewesen waren, dass ich mich mit einem Mal in eine arme, trostlose Welt einfacher Leute wie
Mafaldas Vorfahren versetzt fühlte, die sich in den schmalen vicoli eines alten Neapel mühten und plagten, eine Welt, an der ich gern Oliver hätte
teilhaben lassen, als sei auch er wie Mafalda und Manfredi und Anchise aus dem Süden, jemand, den ich in einer Hafenstadt im Ausland kennengelernt hatte und der sofort begreifen würde,
warum dieses Lied – wie ein uraltes Totengebet in der totesten aller Sprachen – sogar denen Tränen in die Augen trieb, die vom Text kein Wort verstanden.
Es erinnere ihn an die Nationalhymne Israels, sagte er. Oder hatte man sich dort von der Moldau inspirieren lassen? Es könnte auch eine Arie aus Bellinis Sonnambula sein. Warm, aber nicht heiß, sagte ich, obwohl das Lied häufig Bellini zugeschrieben wird. Wir clementisieren, sagte er.
Ich übersetzte den Text aus dem Neapolitanischen ins Italienische und von da ins Englische. Es geht um einen jungen Mann, der, als er unter dem Fenster seiner Liebsten vorbeigeht, von ihrer
Schwester erfährt, dass Nennélla gestorben ist. Auf den Lippen, auf denen einst Blumen blühten, ringeln sich nun Würmer. Lebwohl, Fenster, denn meine
Nenna kann nie wieder hinausschauen.
Ein deutscher Tourist, der ganz allein und auch ziemlich betrunken zu sein schien, hatte unsere Übersetzungsversuche gehört und fragte in stockendem Englisch, ob ich ihm den Text
vielleicht auch ins Deutsche übersetzen könnte. Auf dem Weg zu unserem Hotel lehrte ich Oliver und den Deutschen den Refrain, und wir wiederholten ihn immer wieder. Unsere Stimmen, jede
das Neapolitanische auf ihre Art verschandelnd, hallten in den Gassen wider. Auf der Piazza Navona verabschiedeten wir uns von dem Deutschen, und als wir zu unserem Hotel gingen, sangen Oliver und
ich den Refrain noch einmal leiser:
Chiagneva sempe ca durmeva sola,
mo dorme co’li muorte accompagnata.
Sie weinte immer, denn sie schlief allein,
nun schläft sie immer unter Toten ein.
Aus dem Abstand vieler Jahre meine ich immer noch die Stimmen zweier junger Männer zu hören, die kurz vor Tagesanbruch diesen Text singen und die, während sie
sich in den dunklen Gassen des alten Rom umarmen und immer wieder küssen, nicht ahnen, dass sie sich in diesem Augenblick zum letzten Mal lieben …
»Lass uns morgen nach San Clemente gehen«, bat ich.
»Morgen ist heute«, sagte er.
VIERTER TEIL
Geisterorte
A nchise erwartete mich am Bahnhof. Ich sah ihn, sobald der Zug sich in die lange Kurve um die Bucht legte, wobei er abbremste und fast die hohen
Zypressen streifte, die ich so liebte und hinter denen sich – ein erster Willkommensgruß – das Meer im Nachmittagsglast zeigte. Ich kurbelte das Fenster herunter,
ließ mir den Wind um die Nase wehen und sah weit vorn unsere schwerfällig dahinstampfende Lokomotive. Die Ankunft in B. machte mich immer glücklich. Ich musste daran denken, wie oft
ich Anfang Juni, am Ende des Schuljahrs, hier angekommen war. Der Wind, die Wärme, der schimmernde graue Bahnsteig mit der seit dem Ersten Weltkrieg auf Dauer dichtgemachten alten Baracke des
Stationsvorstehers, die tiefe Ruhe – all das war in
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