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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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seinen Erzählungen für mich wie in magisches Licht getaucht, als sei sie Teil eines anderen Lebens, zu dem ich keinen Zugang hatte, weil sie schon
vorüber war. Beweise dafür, dass es sie gegeben hatte, zeigten sich, wie jetzt, spurenweise in seinem Talent, Cocktails zu mixen oder obskure Grappas auseinanderzuhalten oder ohne
Hemmungen mit Frauen jeder Art zu sprechen – oder in den geheimnisvollen, an ihn adressierten quadratischen Umschlägen, die aus aller Welt bei uns eintrafen.
    Ich hatte ihn nie um seine Vergangenheit beneidet oder mich von ihr bedroht gefühlt. Diese Aspekte seines Lebens erschienen mir auf geheimnisvolle Weise wie Vorfälle, die sich im Leben
meines Vaters lange vor meiner Geburt zugetragen hatten und in die Gegenwart ausstrahlten. Ich missgönnte ihm das Leben nicht, das er vor mir geführt hatte, und es hätte mich auch
nicht gereizt, in die Zeit zurückzukehren, in der er so alt gewesen war wie ich jetzt.
    Unsere Gruppe – wir waren mindestens fünfzehn – drängte sich an einem der großen rustikalen Holztische zusammen. Der Kellner forderte zum zweiten Mal die
letzte Bestellung ein. Zehn Minuten später waren alle anderen Gäste fort. Der Kellner fing schon an, das Eisengitter herunterzulassen von wegen weil jetzt war Stunde von chiusura . An der Jukebox wurde kurzerhand der Stecker herausgezogen. Wenn wir weiter so viel redeten, konnten wir leicht bis zum Morgengrauen hier sitzen.
    »Habe ich dich geschockt?«, fragte der Dichter.
    »Mich?«, wiederholte ich und überlegte, warum er diese Frage ausgerechnet mir stellte.
    Lucia sah uns groß an. »Ich fürchte, er weiß mehr als du darüber, wie man die Jugend verdirbt, Alfredo. È un dissoluto
assoluto «, sagte sie liebevoll, wieder mit einer Hand auf meiner Wange.
    »Bei diesem Gedicht geht es nur um eine einzige Sache«, erklärte Straordinario-fantastico .
    »Um vier Sachen – mindestens«, widersprach der Dichter.
    Letzte Bestellung zum dritten!
    »Warum lassen Sie uns nicht noch bleiben?«, sagte der Buchhändler. »Wir setzen die junge Dame in ein Taxi, wenn wir fertig sind. Und werden bestimmt die Zeche nicht
prellen. Noch eine Runde Martinis?«
    »Macht, was ihr wollt.« Der Kellner band resigniert die Schürze ab. »Ich geh nach Hause.«
    Oliver kam zu mir und bat mich, etwas auf dem Klavier zu spielen.
    »Was möchtest du denn hören?«
    »Einerlei.«
    Damit würde ich mich für den schönsten Abend meines Lebens bedanken. Ich trank einen Schluck von meinem zweiten Martini und kam mir dabei so dekadent vor wie diese Barpianisten,
die zu viel rauchen und zu viel trinken und am Ende des Films in der Gosse liegen.
    Eigentlich wollte ich Brahms spielen, aber dann entschied ich mich doch für etwas eher Stilles, Nachdenkliches. Ich spielte eine der Goldbergvariationen. Von den fünfzehn Gästen
seufzte einer auf, und ich freute mich, denn nur so konnte ich mich für diesen magischen Abend revanchieren.
    Als sie mich baten, noch etwas zu spielen, schlug ich ein Capriccio von Brahms vor. Großartige Idee, fanden alle, aber dann fuhr der Teufel in mich, und nach den ersten Takten ging ich aus
heiterem Himmel in einen stornello über. Der Kontrast war unerwartet, und plötzlich fingen alle an zu singen, aber nicht gemeinsam, sondern jeder den stornello , der ihm oder ihr gerade in den Sinn kam. Nur beim Refrain einigten wir uns auf einen Text, den Vers, den Oliver und ich am frühen Abend von Dante
gehört hatten. Die Gruppe geriet außer Rand und Band, sie baten mich um eine Zugabe und noch eine. Römische stornelli sind meist
heiter-schlüpfrige Gassenhauer, nicht wie in Neapel herzzerreißend traurige Arien. Nach dem dritten sah ich zu Oliver hinüber und sagte, ich wollte mal kurz vor die Tür.
    »Ist ihm nicht gut?«, fragte der Dichter.
    »Er braucht nur frische Luft. Lasst euch nicht stören.«
    Die Kassiererin bückte sich und stemmte mit einem Arm das Rollgitter hoch. Ich kroch unter dem halb geschlossenen Gitter durch und spürte einen Luftzug auf der leeren Gasse.
    »Können wir ein Stück laufen?«, fragte ich.
    Wir schlenderten durch die dunkle Gasse wie zwei Schatten bei Dante, der jüngere und der ältere. Es war immer noch sehr warm, im Licht einer Straßenlaterne glänzte Olivers
Stirn feucht. Wir gingen tiefer in eine sehr stille kleine Straße hinein, dann in die nächste, als lockte uns etwas durch diese unwirklichen, verwunschenen Gassen in eine Unterwelt, die
man in benommenem Staunen

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