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Ruf mich bei Deinem Namen

Ruf mich bei Deinem Namen

Titel: Ruf mich bei Deinem Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andre Aciman
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dieser wunderbar stillen Stunde Inbegriff jener Jahreszeit, die mir die liebste war. Der Sommer fing gerade erst an, etwas Neues hatte
sich noch nicht getan, mein Kopf war noch zugemüllt von dem verbissenen Büffeln vor den Prüfungen, zum ersten Mal in diesem Jahr sah ich das Meer. Oliver? Wer ist Oliver?
    Der Zug blieb kurz stehen und zu fünft stiegen wir aus. Es gab das übliche Gerumpel, gefolgt von dem lauten Gerassel der Hydraulik an der Lokomotive. Dann bewegten sich die Waggons
einer nach dem anderen wieder aus dem Bahnhof heraus und glitten davon. Danach – kein Laut mehr.
    Ich blieb einen Moment unter dem hölzernen Ausleger stehen. Über dem Bahnhof hing ein durchdringender Geruch nach Benzin, Teer, abgeblätterter Farbe und Urin.
    Und wie immer: Amseln, Pinien, Zikaden.
    Sommer.
    Ich hatte kaum einmal an das kommende Schuljahr gedacht. Jetzt war ich froh und dankbar, dass es scheinbar noch in weiter Ferne lag.
    Minuten nach meiner Ankunft fuhr auf dem gegenüberliegenden Gleis zischend der direttissimo nach Rom ein – pünktlich wie immer. In diesem Zug
hatten wir vor drei Tagen gesessen, ich hatte aus dem Fenster gesehen und gedacht: In ein paar Tagen wirst du wieder hier und allein sein. Wappne dich, bereite dich vor. Ich hatte geprobt, wie es
sein würde, ihn zu verlieren – nicht nur um mich vor Schmerzen zu schützen, indem ich sie in kleinen Dosen vorwegnahm, sondern um das Schicksal gnädig zu stimmen, indem
ich mich – wie alle abergläubischen Menschen – bereit zeigte, das Schlimmste zu akzeptieren. Wie Soldaten, die für den Nachtkampf ausgebildet werden, lebte ich im
Dunkeln, um nicht geblendet zu werden, wenn die Finsternis kam. Übe den Schmerz, um den Schmerz zu betäuben.
    Das Prinzip der Homöopathie.
    Also noch einmal. Blick auf die Bucht: abgehakt.
    Pinienduft: abgehakt.
    Baracke des Stationsvorstehers: abgehakt.
    Die Hügel in der Ferne, Erinnerung an den Vormittag, als wir auf dem Weg zurück nach B. im Wahnsinnstempo bergab gesaust waren und um ein Haar ein Zigeunermädchen umgefahren
hätten: abgehakt.
    Geruch nach Urin, Benzin, Teer, Farbe: abgehakt, abgehakt, abgehakt. Abgehakt.
    Anchise nahm mir den Rucksack ab und erbot sich, ihn zu tragen, aber ich sagte, Rucksäcke durften nur von ihren Besitzern getragen werden. Das leuchtete ihm offenbar nicht recht ein, aber
er gab ihn mir zurück.
    Ob Signor Ulliva abgereist sei, wollte er wissen.
    Ja, heute Vormittag.
    » Triste «, stellte er fest.
    »Ja, ein wenig.«
    » Anche a me duole, mir tut es auch leid.«
    Ich sah ihn nicht an. Nur nicht das Thema berühren …
    Meine Mutter erwartete einen ausführlichen Bericht. Wir hätten nichts Besonderes gemacht, sagte ich, hätten uns nur das Capitol angesehen und die Villa Borghese, San Clemente, und
seien ansonsten viel herumgelaufen. Jede Menge Brunnen. Abends jede Menge abartige Lokale. Zweimal Dinner. »Dinner?«, wiederholte meine Mutter mit einem diskret triumphierenden »Hab ich’s dir nicht gesagt?« »Und mit wem?« »Och – Leuten.« »Was für Leuten?«
»Schriftstellern, Verlegern, Freunden von Oliver. Wir haben jede Nacht durchgemacht.« »Noch nicht achtzehn und schon voll im dolce vita «,
spottete Mafalda. Meine Mutter gab ihr recht.
    »Wir haben dein Zimmer wieder so hergerichtet, wie es war. Du bist bestimmt froh, dass du es endlich zurückbekommst.«
    Sofort überkamen mich Trauer und Wut. Wer hatte ihnen das erlaubt? Sie hatten herumgeschnüffelt, ganz klar, zusammen oder jede für sich.
    Natürlich hatte ich immer gewusst, dass ich früher oder später mein Zimmer zurückbekommen würde, aber ich hatte auf einen langsameren, allmählicheren Übergang
gehofft. Ich hatte mir vorgestellt, wie ich im Bett liegen würde und mich dazu würde durchringen müssen, in sein Zimmer hinüberzugehen. Dass Mafalda schon seine
Bettwäsche – unsere Bettwäsche – gewechselt hatte, hätte ich nicht erwartet. Zum Glück hatte ich ihm heute früh endgültig das Flatterhemd
abgebettelt, nachdem er es auf mein Drängen die ganze Zeit in Rom getragen hatte. Im Hotel hatte es in einem Wäschesack aus Plastik gesteckt, jetzt würde ich es nun wohl auf Dauer
vor neugierigen Blicken verbergen müssen. Manchmal würde ich es nachts herausholen, mich vergewissern, dass es nicht den Geruch von Plastik oder von meinen Sachen angenommen hatte, und an
mich drücken, mit den langen Ärmeln um mich schlagen und in der Dunkelheit seinen Namen flüstern. Ulliva,

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