Ruf mich bei Deinem Namen
Ulliva, Ulliva. Oliver würde mich bei
seinem Namen rufen, so wie ihn Mafalda und Anchise für sich umgemodelt hatten, aber auch ich würde ihn bei meinem Namen rufen und auf Antwort hoffen und so immer weiter hin und her: Elio, Elio, Elio.
Um mein Zimmer nicht vom Balkon aus betreten zu müssen, ein Zimmer ohne ihn, ging ich über die Innentreppe nach oben, öffnete die Tür, ließ den
Rucksack fallen und warf mich auf mein warmes, sonnenbeschienenes Bett. Die Tagesdecke hatten sie gottlob nicht gewaschen. Plötzlich freute ich mich, dass ich wieder zu Hause war. Ich
hätte auf der Stelle einschlafen, das Flatterhemd und den Geruch und sogar Oliver vergessen können. Wer kann in dieser sonnengesättigten Mittelmeerlandschaft nachmittags um zwei oder
drei dem Schlaf widerstehen?
Ich war so müde, dass ich beschloss, meine Partitur noch nicht herauszuholen, um mit Haydn da weiterzumachen, wo ich aufgehört hatte. Ich konnte auch zu den Tennisplätzen
hinübergehen, mich auf eine der warmen Bänke setzen, mich von Wohlgefühl durchrieseln lassen und auf einen Tennispartner warten. Irgendjemand war immer da.
Noch nie hatte ich mich dem Schlaf so bereitwillig hingegeben. Zum Traurigsein war noch Zeit genug. Es würde kommen, wahrscheinlich durch die Hintertür, wie das bei diesen Dingen
angeblich immer ist, und glimpflich würde ich nicht davonkommen. Der Trauer vorzugreifen, um sie zu neutralisieren, ist feige und erbärmlich, sagte ich mir und wusste doch, dass ich eben
diese Kunst trefflich beherrschte. Und wenn sie mit aller Macht kam und nicht mehr losließ, wenn sie mir das antat, was mir die Sehnsucht nach ihm in jenen Nächten angetan hatte, als
meinem Leben etwas Wesentliches zu fehlen schien, fast wie ein Körperteil, so dass ihn zu verlieren so wäre, als verlörst du eine Hand, die auf jedem Bild von dir zu sehen ist und
ohne die du nicht mehr du selbst sein kannst? Du hast immer gewusst, dass du sie verlieren würdest, aber du kannst dich mit dem Verlust nicht abfinden. Und auch wenn du hoffst, nicht mehr
daran denken, nicht davon träumen zu müssen – es tut trotzdem weh.
Dann kam mir ein sonderbarer Gedanke. Was war, wenn mein Körper – nur mein Körper, mein Herz – nach seinem schrie?
Was war, wenn ich nachts nicht mit mir würde leben können, ohne dass ich ihn bei mir, in mir hatte?
Denk an den Schmerz, ehe er da ist.
Ich wusste, was ich tat, wusste es noch im Schlaf. Du versuchst, dich zu immunisieren, wenn das so weitergeht, machst du noch alles kaputt, du bist hinterhältig, arglistig, herzlos,
hörte ich mich sagen und lächelte über die Stimme. Ich lag jetzt voll in der Sonne und lieferte mich ihr aus mit einer fast heidnischen Liebe zu den Dingen dieser Erde. Du Heide du!
Ich hatte nie gewusst, wie sehr ich die Erde liebte, die Sonne, das Meer. Menschen, Gegenstände, ja sogar die Kunst kamen erst an zweiter Stelle. Oder machte ich mir da etwas vor?
Später am Nachmittag merkte ich, dass ich mich in den Schlaf nicht nur geflüchtet hatte, sondern ihn regelrecht genoss. Konnte es etwas Besseres geben als – so wie
Träume in Träumen – den Schlaf im Schlaf? Ein sehr seltenes Gefühl, etwas wie reine Glückseligkeit, überkam mich. Heute muss Mittwoch sein, dachte ich, und
tatsächlich, es ist Mittwoch, der Tag, an dem der Scherenschleifer mit seinen Gerätschaften auf unseren Hof kommt und sämtliche Klingen des Hauses schärft, wobei Mafalda neben
ihm steht, mit ihm schwatzt und ihm das Limonadenglas hält, während er sich über den Wetzstein beugt. Das raspelnd kratzige Geräusch des Steins, der in der nachmittäglichen
Hitze zischt und knistert, schickt Schallwellen schieren Glücks zu meinem Zimmer hoch.
Ich hatte mir nie eingestehen können, wie glücklich Oliver mich an dem Tag gemacht hatte, als er meinen Pfirsich gegessen hatte. Natürlich hatte mich die Geste berührt und
mir auch geschmeichelt. Was hätte ich machen sollen? Es ihm verbieten?
Als ich jetzt unter dem Lärm der Zikaden das Geräusch des Wetzsteins hörte, war es einerlei, ob ich aufwachen oder einschlafen würde. Träumen oder Schlafen –
beides war gut, war ein und dasselbe, ich würde das eine akzeptieren oder das andere oder auch beides.
Es war fast fünf als ich aufwachte. Ich hatte keine Lust mehr zum Tennisspielen und noch weniger zum Arbeiten. Zeit zum Schwimmen, dachte ich, zog mich um und ging die Treppe hinunter.
Vimini lehnte an der kleinen Mauer neben dem Haus ihrer
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