Ruf mich bei Deinem Namen
wusste es. »Allora ciao, Oliver, e a presto« , sagte
sie. Mein Vater sagte mehr oder weniger dasselbe und fügte hinzu: »Dunque, ti passo Elio – vi lascio.« Ein Klicken – sie waren
aus der Leitung. Wie taktvoll! Aber die allzu plötzliche Freiheit, ihn über Zeitgrenzen hinweg für mich zu haben, lähmte mich. Guten Flug gehabt? Ja. Blöd, das mit dem
Lunch, was? Ja. Denkst du an mich? Die Fragen waren mir ausgegangen. Es war keine gute Idee, ihn mit immer neuen zu bombardieren. »Was glaubst du wohl?«, antwortete er unbestimmt.
Fürchtete er etwa, jemand könne aus Versehen den Hörer abheben? Vimini lässt grüßen. Sie ist sehr geknickt. Morgen kaufe ich ihr etwas und schicke es per Express. Ich
werde Rom mein Leben lang nicht vergessen. Ich auch nicht. Schönes Zimmer? Leidlich. Geht auf einen lauten Hof raus, keine Sonne, kann mich kaum drehen, wusste nicht, dass ich so viele
Bücher hatte, Bett jetzt viel zu klein. Ich wünschte, wir könnten in dem Zimmer da noch mal von vorn anfangen, sagte ich. Uns abends aus dem Fenster lehnen, Schulter an Schulter, wie
in Rom – mein ganzes Leben lang, sagte ich. Geht mir auch so. Hemd, Zahnbürste, Partitur und ab ins nächste Flugzeug, führe mich nicht in Versuchung. Und er: Ich habe
etwas aus deinem Zimmer mitgenommen. Was? Das errätst du nie. Was? Schau nach. Und dann sagte ich – nicht weil es das war, was ich eigentlich sagen wollte, sondern weil die Stille
lastete und es das Einfachste war, was sich in eine Pause einschmuggeln ließ, und zumindest war ich es dann los: Ich will dich nicht verlieren. Wir schreiben uns. Ich rufe an. Vom Postamt
aus, da stört uns keiner. Von Weihnachten war die Rede, vielleicht schon von Thanksgiving. Ja, Weihnachten. Aber seine Welt, von der mich bis dahin, wie ich meinte, nicht mehr getrennt hatte
als die Dicke des Hautfetzchens, das ihm Chiara einmal von der Schulter gezupft hatte, war plötzlich Lichtjahre weit weg. Bis Weihnachten ist es vielleicht nicht mehr wichtig. Lass mich noch
ein letztes Mal den Lärm vor deinem Fenster hören. Ein Knistern. Lass mich hören, wie du … Ein matter, schüchterner Laut – von wegen weil noch mehr Leute im
Haus sind, sagte er. Da mussten wir lachen. Außerdem warten die anderen, um mit mir wegzugehen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn er gar nicht angerufen hätte. Ich hatte noch
einmal meinen Namen von ihm hören wollen. Und ich hatte ihn jetzt, aus sicherer Entfernung, fragen wollen, was zwischen ihm und Chiara gewesen war. Und wo er die rote Badehose hingelegt hatte.
Wahrscheinlich hatte er sie versehentlich mitgenommen.
Nach dem Anruf ging ich sofort auf mein Zimmer, um nachzusehen, was er wohl als Erinnerung an mich hatte mitgehen lassen. Dann sah ich die helle Stelle an der Wand. Nicht zu fassen: Eine
gerahmte kolorierte Postkarte von Monets Malplatz, etwa aus dem Jahr 1905. Einer unserer früheren Sommergäste hatte sie vor zwei Jahren auf einem Flohmarkt entdeckt und mir als Andenken
geschickt. Die vergilbte Karte war 1914 abgeschickt worden, auf der Rückseite standen ein paar flüchtig hingekritzelte Worte in deutscher Schrift. Empfänger war ein Arzt in England.
Daneben stand mit schwarzer Tinte der Gruß des amerikanischen Studenten: Denk gelegentlich mal an mich . Das Bild würde Oliver an den Vormittag erinnern,
an dem ich endlich frei heraus gesprochen hatte. Oder an den Tag, als wir an Monets Malplatz vorbeigefahren und ihn bewusst ignoriert hatten. Oder an den Tag, an dem wir dort gepicknickt und uns
vorgenommen hatten, einander nicht anzurühren, weil es dann nachmittags im Bett umso schöner sein würde. Ich wünschte mir, dass er das Bild für alle Zeit vor Augen hatte,
sein ganzes Leben lang, hinter seinem Schreibtisch, über seinem Bett, überall. Häng es auf, wo du auch bist, dachte ich.
Die Erklärung kam mir, wie immer, wenn es um diese Dinge ging, nachts im Schlaf, dabei hatte ich sie seit Jahren vor der Nase gehabt. Maynard hieß er. Einmal hatte er nachmittags,
während der allgemeinen Mittagsruhe, an mein Fenster geklopft und gefragt, ob ich schwarze Tinte hätte, seine sei ihm ausgegangen, und er benütze nur schwarze Tinte, wie ich auch. Er
kam herein. Ich hatte nur eine Badehose an. Ich ging zum Schreibtisch und gab ihm das Fläschchen. Er sah mich groß an, blieb einen Augenblick verlegen stehen und nahm es mir ab. Abends
stellte er es mir dann vor die Balkontür. Jeder andere hätte wieder geklopft und sie
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