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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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behindert.
    Aus einer Reihe von Automaten konnte man kalte Speisen ziehen. Auf einem Metalltresen stand heißer Kesselgulasch, fünfundachtzig Pfennig. Kurt überlegte nicht lange, nahm eine Schüssel. Seit man ihm ein Stück Magen herausoperiert hatte, hatte er sich abgewöhnt, Speisen auf ihre Schärfe oder auf ihren Zwiebelgehalt zu prüfen: Er aß alles – und alles bekam ihm gut. Auch Sascha nahm Kesselgulasch. Sie gingen zu einem der Stehtische, löffelten ihre Suppe. Sie schmeckte nicht einmal schlecht. Kurts Stimmung besserte sich sofort, er war drauf und dran, eine zweite Portion zu holen, disziplinierte sich aber und berücksichtigte den Rat seines Arztes: Wenig essen und dafür oft.
    Nach dem Gulasch standen sie noch eine Weile am Tisch. Kurt schaute dem Verkehr nach, der hinter den großen Glasfenstern auf der dem Alexanderplatz abgewandten Seite vorbeirauschte, und ihm kam die verlockende Idee, mit dem Taxi zurückzufahren: wenigstens bis nach Karlshorst? Dann fiel ihm das Geld ein, das er noch immer abgezählt in seiner Manteltasche trug. Er holte die Scheine heraus, es waren zweihundert Mark, und wollte sie Sascha unter dem Tisch zustecken.
    – Das ist noch für dich, sagte er.
    – Ist nicht nötig, sagte Sascha.
    – Jetzt mach kein Theater, sagte Kurt.
    – Ich hab alles, was ich zum Leben brauche, erwiderte Sascha.
    Kurt überlegte, ob er das Geld einfach unter die Gulaschschüssel klemmen und gehen solle, steckte es dann aber ein.
    Sie verabschiedeten sich vor dem Restaurant, umarmten einander, wie sie es immer taten, nickten einander zu. Dann schlug Sascha den Weg ein, auf dem sie gekommen waren, während Kurt in Richtung Bahnhof ging. Auf der Treppe zur S-Bahn blieb er stehen: Scheiß drauf, dachte Kurt, ich fahr mit dem Taxi ! Er machte kehrt und stieg die Treppe wieder hinab.
    Tatsächlich stand am Taxistand neben dem Bahnhof ein freies Taxi. Kurt kroch in den Fond des Wagens. Es war ein Wolga, ein breites Gefährt mit weichen Sitzen, das, wie alle Russenautos, nach Russenauto roch – ein Geruch, der ihn immer ein bisschen an Moskau erinnerte: Schon die alten Pobeda-Taxen hatten so gerochen.
    – Neuendorf, Am Fuchsbau sieben, sagte Kurt und erwartete die Frage, wo das sei: Neuendorf? Fuchsbau?
    Stattdessen faltete der Fahrer seine Zeitung zusammen und fuhr los.
    Es war warm im Auto. Kurt zog seinen Mantel aus, nahm die zweihundert Mark (die ihm jetzt vorkamen, als hätte er sie auf der Straße gefunden) aus der Manteltasche – und steckte sie wieder ins Portemonnaie … Was erzählte er eigentlich Irina?
    Der Wolga summte mit leicht überhöhter Geschwindigkeit das Adlergestell entlang. Kurt ging die Geschichte dieses unerfreulichen Nachmittags durch. Prüfte, ob besonders unerfreuliche Details sich abmildern oder unterschlagen ließen, ohne dass es zu einer nachweislichen Falschdarstellung kam. Hörte sich mit verstellter, beschwichtigender Stimme zu Irina sprechen …
    Sah ihr Gesicht. Sah den Lippenstift, der sich auf dem Filter ihrer Zigarette abdrückte. Ihre in letzter Zeit nicht immer sorgsam gezupfte Oberlippe, die zu zittern anfing, bevor sie zu einer erneuten Tirade gegen Melitta anhob …
    Kurt rechnete: Durch das Taxi sparte er eine Stunde. Wie viel Zeit er mit Sascha verbracht hatte, ließ sich schwer überprüfen. Jetzt war es sieben … Scheiß drauf, dachte Kurt. Verdammt nochmal und scheiß drauf.
    – Kennen Sie die Gartenstraße in Potsdam, fragte er den Fahrer.
    – Von der Leninallee ab, fragte der Mann.
    – Genau, sagte Kurt. Fahren Sie mich zur Gartenstraße.
    – Nicht zum Fuchsbau, fragte der Mann.
    – Nein, sagte Kurt. Zur Gartenstraße siebenundzwanzig.

2001
    Entsetzliche Vorstellung, die ihn kurz vor der Abfahrt des Busses befällt: dass sich ausgerechnet dieser Mann neben ihn setzen könnte – ein gedrungener, bäuerlich aussehender Mestize, der sich ununterbrochen und unter saugenden, schmatzenden Geräuschen mit einem Zahnstocher die lückenhaften Zähne reinigt. Tatsächlich kommt der Mann, als Alexander schon auf seinem Platz sitzt, immer näher, vergleicht umständlich jede einzelne Platznummer mit der Nummer auf seinem Billett, bis endlich ein anderer Fahrgast ihm bei der Suche behilflich ist und feststellt, dass er schon lange an seinem Sitzplatz vorbeigegangen ist.
    Der Platz neben Alexander bleibt leer. Dafür gibt es eine andere Art von Folter. Kaum ist der Bus abgefahren, schaltet der Fahrer die Bordvideoanlage ein, und nach ein paar Minuten

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