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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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verschwanden, verwandelte sich die Schönhauser in ein kahles Gelände. Keine Kneipen mehr. Keine Schaufenster. Keine Menschen. Nur da vorn, fünfzig, sechzig Meter vor Kurt, eine dürre, kahlgeschorene Gestalt: sein Sohn.
    Drehte sich nicht um, ging einfach.
    Links tauchte der jüdische Friedhof auf: die lange Mauer, hinter der das Friedhofsgelände lag, das Kurt noch nie betreten hatte und auch nie hatte betreten wollen. Wenn er ehrlich war, verabscheute er Friedhöfe. Seltsam nur, dass man hier nie jemanden ein oder aus gehen sah. Seltsam auch, dass die U-Bahn hier so dicht neben dem Friedhof verkehrte: dass sie ihre Passagiere schon einmal probehalber unter die Erde brachte – gewissermaßen auf Augenhöhe mit den Toten.
    Was Kurt jetzt einfiel: Melitta hatte erzählt, dass Sascha neuerdings in der Bibel las. Dass er sogar irgendwie, so hatte Melitta behauptet, an Gott glaube …
    War es das – der Irrsinn in seinen Augen?
    Gegenüber erkannte Kurt die seltsamen, ruinösen Arkaden, über deren Ursprung und Sinn er vollkommen im Unklaren war, nur dass sich dahinter, irgendwo über den Hof, die Druckerei des Neuen Deutschland befand, wusste er, und die Tatsache, dass dort hin und wieder Gedanken von ihm durch eine Druckerpresse gingen, erfreute ihn irgendwie, auch wenn seine Artikel im ND , um die er meist anlässlich irgendwelcher historischer Jubiläen gebeten wurde, bestimmt nicht zu seinen wissenschaftlichen Glanzstücken gehörten.
    Lies erst mal so viel, wie ich geschrieben habe.
    Obwohl, Quatsch. Zweiter Versuch:
    Lies erst mal, was ich geschrieben habe, bevor du darüber urteilst.
    Einprägen. Bei Gelegenheit benutzen.
     
    Die Ampel an der Wilhelm-Pieck-Straße wechselte auf Rot – Sascha wartete. Erstaunlich, dass er sich noch an die Verkehrsregeln hielt.
    Während der Ampelphase hatte Kurt aufgeschlossen. Nebeneinander gingen sie über die Straße. Einen Augenblick überlegte Kurt, ob er das Thema «Gott» ansprechen sollte – aber wozu? Und wie? Sollte er Sascha allen Ernstes fragen, ob er an Gott glaube? Schon das Wort klang, wenn man tatsächlich Gott meinte, nach Irrsinn.
    Sie passierten die Volksbühne. «Der Idiot» wurde gespielt.
    Schweigend gingen sie weiter. Am Alex wurde noch immer gebaut. Der Wind klirrte in den Gerüsten. Die Bügel von Kurts Brille waren so kalt, dass ihm die Schläfen schmerzten. Er nahm die Brille ab, schob den Schal vor die Nase und wunderte sich, wie er das damals ausgehalten hatte: fünfunddreißig Grad minus – das war die Temperatur, bis zu der man sie zum Arbeiten hinausgeschickt hatte in die Taiga.
    Bei Wind nur bis dreißig.
    Sie passierten den Schacht zwischen dem großen Hotel und dem Warenhaus und gingen dann, ohne dass Kurt hätte sagen können, warum und wohin, quer über die Fläche, wo der Wind sie in Wirbeln und Stößen attackierte und ihnen Tränen in die Augen trieb. Kurt versuchte, die Augen mit der Hand zu schützen, stemmte sich gegen die Böen, wankte auf unebenem eisigem Grund blindlings voran und hätte nicht sagen können, ob sein Sohn noch immer neben ihm ging, drehte sich nicht nach ihm um, hörte nichts, spürte den stumpfen Schmerz, der trotz Lammfellhandschuhen allmählich in die Fingerspitzen kroch, und stellte sich vor, wie er, wenn er nach Hause kam, würde eingestehen müssen, dass er Alexander auf dem Alexanderplatz verloren hatte, ausgerechnet, als sei es absehbar gewesen, dass dieser Platz ihn verschlingen, dass Sascha sich hier in Luft auflösen oder im Erdboden versinken würde – wirres Zeug, dachte Kurt. Was einem, wenn man nicht aufpasste, durchs Hirn schoss.
    – Wo gehen wir eigentlich hin, fragte Sascha.
    Sie standen jetzt vor der Weltzeituhr. In New York war es halb eins, in Rio halb vier. Ringsum ein paar verfrorene Gestalten, die sich leichtsinnigerweise trotz der Kälte hier verabredet hatten: war ein beliebter Treffpunkt, die Weltzeituhr, als spürte man hier etwas von der großen, weiten Welt.
    – Zur Hölle, sagte Kurt.
    – Dort ist auf, sagte Sascha. Lass uns reingehen. Ich frier mir den Arsch ab sonst.
    Was Sascha meinte, war die Selbstbedienungsgaststätte im Erdgeschoss vom Alexanderhaus. Kurt war ein einziges Mal dort gewesen. Vor zehn Jahren, als das Restaurant eröffnet wurde, war es der letzte Schrei gewesen. Inzwischen hatte sich eine ranzige Patina über alles gelegt. Die Gestalten, die der Abend hereingespült hatte, waren grobgesichtig und roh, und es schien Kurt, als seien die Leute alle

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