Ruge Eugen
Schlichte, zweistöckige Häuser, meist pastellfarben, gebleicht von der Sonne. Es wimmelt von Fußgängern. Es ist schwül und heiß, und auf dem Kurs durch die schmalen Straßen wehen durch das offene Fenster verschiedenste Gerüche herein: Frittieröl, Abwasser, der Duft aus offenstehenden Friseurläden, Autoabgase, frischgebackene Tortillas, und an einer Stelle – sie müssen warten, weil gerade Plastiksäcke von einem Lkw abgeladen werden – riecht es tatsächlich nach dem Nitratdünger aus Omis Wintergarten.
Alexander bezahlt, verstaut umständlich seine Geldbörse, bis der Taxifahrer außer Sichtweite ist. Direkt neben dem Imperial steht ein kleineres, bescheideneres Hotel. Die Übernachtung kostet hier zweihundert Pesos. Er bezahlt eine Woche im Voraus und bekommt ein Zimmer im ersten Stock mit Blick auf einen hübschen Platz, mit einem Campanile und Palmen, das Ganze von pastellfarbenen Gebäuden umgeben, die Alexander für Kolonialstil hält, vielleicht wegen der Arkaden, in deren Schatten sich zahlreiche Cafés und Kneipen eingenistet haben. Dann überkommt ihn die Befürchtung, der Lärm aus den Kneipen, besonders aus dem Hotelrestaurant, dessen Tische und Stühle sich direkt unter seinem Fenster ausbreiten, könnte ihm in der Nacht den Schlaf rauben, und er bittet die beiden Mädchen an der Rezeption um ein stilleres, abgelegenes Zimmer. Zwar versichern die beiden einhellig und mit mathematischem Ernst, dass der Platz in der Nacht ruhig sei, aber Alexander besteht auf dem Tausch. Anstelle des hellen, geräumigen Zimmers mit Blick auf den Platz bekommt er ein kleines, fensterloses, das sein spärliches Tageslicht aus einem Glasbausteinschlitz bezieht und seine Atemluft aus einer Klimaanlage. Wahrscheinlich ist das Zimmer zu teuer bezahlt, aber sein Schlaf ist ihm wichtiger als eine schöne Aussicht.
Er isst in einem restaurante familiar , was immer das bedeutet. Der Kellner, ein vielleicht fünfundzwanzigjähriger Mann in einem babyblauen Polohemd, legt ihm seinen Notizblock auf den Tisch, damit er die Nummer des von ihm bestellten Gerichts selbst hinschreibt, und geht anschließend damit zu einem Tresen, wo die Bestellung von einer jungen, geschäftigen Frau entziffert und an zwei ältere Frauen weitergegeben wird, welche flink und vor aller Augen die Gerichte zubereiten. Der Salat aus Garnelen und Kräutern, den Alexander bekommt, ist frisch und schmeckt wunderbar, und trotz der bunten Igelit-Tischdecken, trotz der weißen Plastikstühle und der sperrangelweit offenen Türen und sogar trotz der Neonröhren an der Decke, die ungeachtet der Tageszeit eingeschaltet sind, strahlt das Restaurant beinahe so etwas wie Gemütlichkeit aus, etwas Häusliches, Warmes, und vielleicht ist es gerade das, was Alexander für eine Sekunde innehalten lässt, was ihm für einen Augenblick Schluckbeschwerden bereitet. Vielleicht ist es die betriebsame Eintracht hinter dem Tresen, wo die beiden Frauen, eine mittleren Alters und eine Uralte, jetzt den Fisch für ihn zubereiten. Oder ist es die winzige Geste des Kellners, der ihm, nachdem er den Garnelensalat auf einem flachen Teller vorsichtig durch den Raum balanciert und ihn, ohne mit dem Daumen in die Soße zu dippen, auf seinem Platz abgestellt hat, ermutigend zunickt und ihm – fast zärtlich – die Hand auf die Schulter legt.
Die Dunkelheit kommt übergangslos und ziemlich genau um sechs. Alexander macht noch einen Abstecher zur hellerleuchteten Hafenpromenade. Die Temperaturen sind jetzt erträglich, der Ozean atmet ihn an, aber auch hier scheint die Luft wie mit Wehmut getränkt. Alexander atmet vorsichtig und flach, um nicht zu viel davon in seinen Körper eindringen zu lassen.
An der Kaimauer, wo eine Gruppe schwerbewaffneter Polizisten herumlungert wie eine Jugendbande, dreht er sich um, schaut zurück auf die Stadt Veracruz, betrachtet sie von der Seeseite aus: so etwa – abgesehen von dem vielstöckigen Neubau direkt am Kai – muss sie sich den aus Europa Ankommenden dargeboten haben. So haben sie möglicherweise Nacht für Nacht vom Schiffsdeck aus in die Tiefe der Hafenpromenade geschaut, hinein in das Land, das für viele die letzte Hoffnung bedeutete. Jahrelang, so reimt Alexander sich die Vorgeschichte jener Geschichte zusammen, die seine Großmutter ihm einmal erzählt hat – jahrelang waren diese Menschen auf der Flucht gewesen, waren in höchster Not aus französischen Internierungslagern entwischt, waren den nach Marseille vorrückenden
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