Ruge Eugen
Werbung in eigener Sache beginnt ein Film, in dem ein überdimensionales rosa Kaninchen mit durchdringender synthetischer Stimme die Hauptrolle spielt.
Die Fahrt soll sechs Stunden dauern. Schon nach einer Stunde hat sich Alexanders Ärger über die Lärmbelästigung zu einem veritablen Hass ausgewachsen: vor allem auf den Busfahrer, den er für zuständig hält, aber auch auf die Mitreisenden, die den Film vollständig ignorieren und ihre Gespräche in doppelter Lautstärke fortsetzen, wenn sie nicht gerade, halb beifällig, halb verschlafen mit dem Kopf wackelnd, auf den Bildschirm starren oder, unglaublich, sogar schlafen.
Alexander hat kaum geschlafen. Die Ohrenstöpsel, die er unter das unberührte, dann von ihm zerknautschte Kissen gesteckt hat, waren bei seiner Rückkehr aus Teotihuacán verschwunden. Das Zimmermädchen musste sie beim Wechseln der Bettwäsche entsorgt haben. Vergeblich hat er die gelben, kleinen Kunststoffzylinder auf dem Nachttisch, im Bad und schließlich sogar im Abfalleimer gesucht – sie blieben verschollen. Entnervt vom Kläffen und Heulen der beiden Dach-Köter, ist er früh am Morgen aufgestanden, und als der junge, glattgesichtige Mexikaner an der Rezeption behauptete, kein anderes Zimmer zur Verfügung zu haben, hat er sich zum sofortigen Aufbruch entschlossen. Er frühstückte, bevor die Schweizerinnen auftauchten, packte seinen Rucksack und fuhr, begleitet vom Brüllen der Lautsprecherkisten hausierender CD-Verkäufer, mit der Metro zum zentralen Busbahnhof, TAPO genannt, wo er ein Ticket für den nächsten Bus nach Veracruz erwarb.
Veracruz: Er weiß nichts von dieser Stadt, außer dass seine Großmutter hier mit dem Schiff angekommen sein muss. Und er kennt die Geschichte von dem Mann, der ins Hafenbecken sprang. Und dass irgendwann dieser Hernán Cortés hier mit seinen etwas über zweihundert Leuten gelandet war, um das Land der Mexica zu erobern, daran glaubt er sich zu erinnern. Sonst weiß er nichts.
Er könnte im Backpacker nachsehen – wenn er den noch hätte. Hat er aber nicht. Hat ihn auf dem Nachttisch in seinem Hotelzimmer liegenlassen, absichtlich.
Nach zwei Stunden Fahrt ist der Rosa-Kaninchen-Film zu Ende – und ein neuer Film beginnt. Irgendwann gibt Alexander es auf, in keinen der vier für ihn sichtbaren, ja geradezu auf ihn zielenden Bildschirme zu gucken, und während er im Geist schon die nötigen spanischen Sätze zusammensetzt, um in Veracruz von der Busgesellschaft einen Teil des Fahrpreises zurückzufordern (zumindest den Anteil für die erste Klasse – oder besteht das Erstklassige gerade in dieser rücksichtslosen Berieselung, ist es gerade diese «Annehmlichkeit», die den Preisunterschied ausmacht?) – während er also im Geist und schon im Bewusstsein der Vergeblichkeit durch das ovale Fensterchen mit einem Unformierten streitet, nimmt in den vier auf ihn gerichteten Bildschirmen eine eigenwillige Handlung ihren Lauf. Sie beginnt damit, dass ein junger Soldat im Zug ein Mädchen kennenlernt, welchem er überraschenderweise schon einige Minuten später einen Verlobungsring ansteckt, den er zufällig in einer Pralinenschachtel bei sich trägt. Fast im selben Augenblick taucht ein Mann hinter den Weinstöcken auf und schießt auf die beiden; es stellt sich heraus, dass es der Vater des Mädchens ist. Der Rest des Films spielt auf einem Weingut und handelt von verwickelten Familienangelegenheiten: Der Soldat liebt das Mädchen, der Vater tritt als Störenfried auf, zwischendurch werden Pralinen an zahlreiche Onkel und Tanten verteilt; es wird gezeigt, wie heiter die Weinernte ist, und wenn die Dramaturgie es verlangt, taucht eine gewaltige Landschaft auf, oder es erklingt eine Musik, die anzeigen soll, was die Protagonisten im jeweiligen Augenblick empfinden. Dann zündet der Vater versehentlich die Weinstöcke an, die erstaunlicherweise brennen wie Napalm … Dann schaltet der Busfahrer das Video ab und hält zur Pinkelpause.
Vom Busbahnhof Veracruz aus nimmt er ein Taxi. Er fragt den Taxifahrer nicht nach einem Hotel, sondern gibt sicherheitshalber einen Straßennamen an, den er im Busbahnhof auf der Werbung eines Hotels im centro historico gefunden hat:
– Miguel Lerdo.
– Hotel Imperial, fragt der Taxifahrer.
– No, sagt Alexander.
Er gibt sich grimmig. Er ist zu allem entschlossen. Sie fahren eine breite Allee mit Palmen entlang, bis der Verkehr sich staut, dann versucht es der Fahrer in hektischem Zickzack durch die Altstadt.
Weitere Kostenlose Bücher