Ruge Eugen
deutschen Truppen entkommen, hatten in enervierenden Behördengängen Transitvisa oder Aufenthaltsverlängerungen ergattert, hatten Wochen oder Monate mittellos in einer trostlosen nordafrikanischen Stadt ausgeharrt, bis sich ein Schiff fand, das sie als Passagiere dritter Klasse über den Ozean brachte, und hatten dann, bei der Ankunft in Veracruz, nicht an Land gehen dürfen, weil noch nicht alle Formalitäten geklärt, nicht alle Genehmigungen erteilt waren. In dieser Lage waren einem der Wartenden die Nerven durchgegangen, und er war eines Nachts ins Hafenbecken gesprungen, um Mexiko schwimmend zu erreichen. Der Mann, so seine Großmutter, sei im Wasser verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Schon bald zogen über der Stelle, wo der Mann eingetaucht war, die Spitzen schwarzer, das Wasser sanft zerteilender Rückenflossen gleichmäßig ihre Kreise.
Der Platz vor dem Hotel ist, als er zurückkommt, mäßig belebt, nicht so stark, wie er befürchtet hat, aber gerade noch so, dass der Tausch des Zimmers nachträglich gerechtfertigt erscheint. Allerdings bleibt ihm in dem stickigen, fensterlosen Raum nichts anderes übrig, als die Klimaanlage einzuschalten, die aber, wie sich jetzt herausstellt, an einen Lichtschacht montiert ist, der Schwaden ausgestoßenen Zigarettenrauchs mit sich führt. Obendrein rasselt die Anlage, es dauert lange, bis er begreift, woran ihn dieses Rasseln erinnert – aber dann überfällt ihn die Erinnerung wie ein Déjà-vu, und er muss das Licht einschalten, um sich zu vergewissern, dass er nicht wieder im Krankenhaus ist.
Am Morgen hat er Kopfschmerzen, fühlt sich schlecht. Er vermeidet es, nach den Lymphknoten zu tasten, er vermeidet alles, was ihn ankratzen, was ihn aus der Bahn werfen könnte. Er verzichtet aufs Kaltduschen, das ihm seit Jahren Gewohnheit ist, steigt mit leichtem Schwindelgefühl die Treppe hinab. Als er auf den Platz hinaustritt, ist der mexikanische Himmel, der bis jetzt jeden Tag blau gewesen war, plötzlich bedeckt. Wenn er nicht wüsste, dass die Regenzeit in Mexiko erst im Mai beginnt, würde er sagen, dass es nach Regen aussieht.
Er findet rasch eine farmacia , genießt einen gewissenlosen Augenblick lang die Allgegenwart multinationaler Konzerne, infolge deren es ausreicht, das Wort Aspirin auszuhauchen, um das gewünschte Produkt zu erhalten. Als schwierig erweist es sich jedoch, dem Apotheker auch seinen zweiten Wunsch verständlich zu machen. Er versucht es mit:
– Quiero algo para tapar las orejas.
Der Apotheker wiegt bedeutsam den Kopf hin und her beginnt dann, Alexander insistierende, aber unverständliche Fragen zu stellen, auf deren Beantwortung er aber zu bestehen scheint, bis er schließlich, obwohl Alexander kaum artikulierte Laute hervorbringt, eine Erleuchtung hat, die sich in der emphatischen Wiederholung des Wortes ferretería niederschlägt, und nun muss Alexander auch noch eine schwierige Wegbeschreibung über sich ergehen lassen, obwohl er inzwischen sicher ist, missverstanden worden zu sein: Auf keinen Fall will er sich etwas aus Eisen in seine Ohren stecken.
Er findet ein großes Kaffeehaus am Platz. Hier gibt es eine Unzahl von Kellnern in schokoladenbraunen Anzügen, aber aufgrund der komplizierten Zuständigkeitsbereiche, die Alexander nicht sofort durchschaut, dauert es eine Ewigkeit, bis er – jeweils bei einem anderen Kellner – einen Kaffee, ein Glas Wasser und ein Croissant bestellen kann, eine weitere Ewigkeit, bis er alles bekommen hat, und am Ende dauert es noch einmal unendlich lange, bis er den fürs Bezahlen zuständigen Kellner identifiziert hat und schließlich an seinen Tisch dirigieren kann. Sein Kopf droht zu platzen, als er das Kaffeehaus verlässt. Noch draußen auf dem Platz hat er das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Er geht los, ohne zu überlegen, ohne sich über die Richtung im Klaren zu sein, findet sich nach wenigen Minuten auf der Hafenpromenade wieder und atmet jetzt tief und durch geblähte Nasenflügel den über das Meer kommenden Wind ein, obwohl er noch immer so schwer, so feucht, so gefährlich duftet wie gestern.
Er marschiert Richtung Süden, die Kaimauer entlang. Der Wind wird böig, wirbelt Sand auf. Fast beiläufig nimmt Alexander zur Kenntnis, dass im Hafenbecken mehrere, vielleicht zwölfjährige mexikanische Jungs baden. Kreischend springen sie von der Kaimauer aus hinein, und weder Menschen noch Haifische scheinen sich um sie zu kümmern … Ein Stück weiter gibt es sogar
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