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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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die Bilder loszuwerden, die ihm durch den Kopf gehen. Er sucht andere Bilder. Er versucht, sich an irgendwas zu erinnern. Er versucht, zwischen den Schauern, die wellenartig gegen ihn anrennen, etwas Freundliches heraufzubeschwören, aber er sieht immer eines: Sieht sich durch fremde Städte irren, immer nur das, als gäbe es nichts anderes in seinem Leben, immer nur Straßen, immer Häuser, immer Gesichter, die zerplatzen, wenn er sie zu berühren versucht, das ist mein Lebensfilm, denkt er, während seine Zähne aufeinanderschlagen, wenngleich in einer erbärmlich gekürzten Fassung, denkt er und versucht, sein Zähneklappern zu unterdrücken, um nicht noch mehr Gebäude zum Einsturz zu bringen. Er wird eine andere Fassung verlangen, denkt er, er wird doch, verdammt nochmal, das Recht haben, seinen Film selber zu schneiden, denkt er, und beißt die Zähne zusammen, bis ihm der Kiefer wehtut, und dann wird es heiß, er rennt, alle verlassen die Stadt, er rennt durch die Wüste, die Luft brennt ihm im Hals, er rennt, sein Herz schlägt in einer unglaublichen Frequenz, es zittert mehr, als es schlägt, es geht steil bergauf, immer bergauf, ohne dass ein Gipfel zu sehen wäre, die Wüste ist schief, stellt Alexander fest, bis zum Horizont geht es immer bergauf, es ist unmöglich, den Anstieg zu schaffen bei der Hitze, mit dem Herzfehler in der Brust, nicht operabel, er weiß es, er müsste anhalten, aber die Landschaft hinter ihm bricht ab, fällt stückweise in den Abgrund, oder besser gesagt: in den Himmel hinein, der überall ist, oben und unten, und durch diesen allgegenwärtigen Himmel hindurch erstreckt sich als kaum meterdicke, brüchige Kruste – die Welt: verblüffende Erkenntnis. Dann sind seine Eltern neben ihm, halten ihn, den Herzkranken, an beiden Händen. Sie tragen ihre Sonntagskleider, sein Vater Hosen mit Aufschlag wie in den fünfziger Jahren, seine Mutter hohe Schuhe und den weiten Rock, unter dem er sich immer verkrochen hat, aber sie nehmen keine Rücksicht auf ihre Kleidung, sie laufen, klettern, kriechen die dünne, schräg in den allgegenwärtigen Himmel ragende Kruste hinauf, rutschen ab, fallen, rappeln sich wieder hoch und ziehen ihn, den Herzkranken, hinter sich her, drängen ihn zur Eile, gefasst zwar, aber unnachgiebig, in einem Ton, als verspäte man sich zum Kindergarten, ermahnen ihn weiterzugehen, sich nicht andauernd umzudrehen, dorthin, wo Stück um Stück abbricht, sondern nach vorn zu schauen, nach oben, wo, ganz in der Höhe, am Ende der Welt, eine kleine Gruppe federgeschmückter Indios eine neue Welt herbeizutanzen versucht: Es sind fünf oder sechs Mann, kleine Menschen mit Bauchansatz, die im Takt von einem Fuß auf den anderen treten. Die Musik, nach der sie tanzen, kommt aus einer Box, wie sie die U-Bahn-Verkäufer um den Hals tragen, ihren Federschmuck haben sie gerade im Souvenirladen gekauft, und anstelle von Messern halten sie in den Händen kleine schwarze Obsidian-Schildkröten.
     
    Zwei Tage liegt er krank im Bett. Einmal steht er auf, schleicht, gekrümmt vom Fieber, in einen Supermarkt, um Trinkwasser zu kaufen. Am dritten Tag packt er seine Sachen, bestellt an der Rezeption ein Taxi, lässt sich, ohne etwas von der Vorauszahlung für das Zimmer zurückzufordern, zum Busbahnhof bringen und verlangt eine Fahrkarte zum Pazifik. Der Mann an Schalter legt ihm eine DIN-A5-große Karte vor, Alexander tippt blindlings auf einen Ort am anderen, gegenüberliegenden Ozean, dem friedlichen, dem Stillen.
    – Pochutla, sagt der Mann.
    – Pochutla, wiederholt Alexander – ein Ortsname, von dem er sicher ist, dass er ihn noch nie im Leben gehört hat.
    Der Bus fährt abends um sieben. Es ist ein Bus der Luxusklasse, es gibt Liegesitze und – es ist still. Der Ton der Videoberieselungsanlage ist, wie im Flugzeug, nur über Kopfhörer zu bekommen. Alexander gelingt es, ein paar Stunden zu schlafen.
    Am Morgen ist der Himmel wieder blau – irrsinnig blau. Überhaupt kommen ihm die Farben intensiver vor als an der Ostküste. Die armseligen Hütten am Straßenrand strahlen rot und grün in der Morgensonne, die handgemalten Reklameschilder grüßen ihn im Vorbeifahren, und es kommt ihm kein bisschen seltsam vor, dass der Mann vor seinem winzigen Restaurant den Sand fegt. Irgendetwas – die Luft, der Himmel, die fragile Wellblech- und Pfahlarchitektur – verrät die Nähe des Pazifiks.
    Dann ist er in Pochutla. Der Linienbus, in den er umgestiegen ist, lädt ihn vor einer zum

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