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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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dass es ihm vorkam, als sei das Haus seiner Mutter unerreichbar fern. Kurt glaubte auf der Stelle zu treten. Sein Bewegungsdrang wuchs mit jedem Schritt. Das prächtige Wetter wurde ihm unerträglich. Das Ziehen in seinem Bauch nahm zu. Jetzt ärgerte er sich, dass er am Vormittag nicht einfach die Tür hinter sich zugemacht hatte und in den Wildpark hinausgegangen war, um ein, zwei Stunden lang gemessenen Schrittes zwischen den Bäumen zu wandeln.
    Es war zwecklos, mit Irina zu diskutieren. Sie saß jetzt oben in ihrem Zimmer und hörte Wyssozki. Das ganze Haus dröhnte davon. Noch immer glaubte Kurt das durch Türen und Fenster dringende Brüllen zu hören. Als brüllte da jemand um sein Leben. Eine Unglücksmusik, dachte Kurt. Eine Musik – wenn man es Musik nennen wollte –, die Irina dazu diente, sich in ihr Unglück hineinzusteigern, das war es, was Kurt missfiel: dieser Drang, sich ins Unglück hineinzusteigern, den Irina neuerdings, nachdem sie jahrelang nichts von ihren russischen Wurzeln hatte wissen wollen, mit ihrer ruhsischen Selle in Zusammenhang brachte.
    Hinzu kam der Alkohol – ein Stoff, dem die ruhsische Selle ohnehin in einem besonderen Maße zugeneigt schien. Zwar hatte Irina, anders als er selbst, schon von jeher kräftig getrunken, allerdings war es bisher immer eine Art «gesellschaftliches» Trinken gewesen. Dass sie sich in ihr Zimmer zurückzog und sich, Wyssozki hörend, in aller Einsamkeit betrank, war eine ziemlich neuartige Erscheinung. Gewiss war sie keine Alkoholikerin: Manchmal trank sie tagelang oder sogar wochenlang nicht. Und doch beunruhigte es Kurt, wenn er an die schier unbeherrschbare Kettenreaktion dachte, die ein einziger Kognak bei ihr auslösen konnte.
    Diesen einen einzigen Kognak hatte Kurt ihr – nach der Nachricht von Saschas Flucht – nicht verwehren können. Aber kaum dass sie diesen einen einzigen Kognak getrunken hatte, hatte sie mit Vehemenz einen zweiten (und letzten) verlangt. Danach hatte sie begonnen, in fast unflätiger Weise über Catrin herzuziehen, die sie (vielleicht nicht vollkommen zu Unrecht) verdächtigte, Sascha zur Flucht überredet zu haben. Den dritten Kognak goss sie sich selber ein und drohte fast handgreiflich zu werden, als Kurt ihr die Flasche wegnehmen wollte. Nun fehlte nur noch, dass Kurt sie, um ihre Verzweiflung zu mildern, vorsichtig daran erinnerte, dass auch sie, da sie bereits über sechzig, also im Rentenalter war, das Recht hatte, ihren Sohn im Westen zu besuchen – und ihre Wut wendete sich gegen ihn, Kurt, weil er ihr zumuten wollte, ihren Fuß über die Schwelle dieser Frau zu setzen, und schließlich, nach dem vierten Kognak, sogar gegen Sascha, an dem sie sonst nie etwas Schlechtes zu finden bereit war: Mein Sonn hat mich verratten , hieß die Formel, in der ihre Enttäuschung ihren endgültigen Ausdruck fand, und wenngleich Kurt einen Hauch von Genugtuung darüber verspürte, dass auch Sascha einmal etwas abbekam, hatte er tapfer Einspruch erhoben und wenigstens diese einfache Wahrheit vor Irinas vernichtenden und selbst für ihre Verhältnisse beeindruckend irrationalen Attacken zu verteidigen versucht: dass Saschas Flucht sich ja nicht gegen sie persönlich richte! Daraufhin hatte Irina sich mit dem Rest der Flasche und der merkwürdigen Drohung, sich einen Hund anzuschaffen, in ihr Zimmer zurückgezogen, und Kurt hatte sich Bratkartoffeln gemacht.
    Das heißt, er hatte versucht, sich Bratkartoffeln zu machen. Dummerweise waren die in Scheiben geschnittenen Kartoffeln am Pfannenboden angebacken und beim Wenden zerbrochen, sodass die am Boden klebenden Inseln nach einer Weile zu rauchen begannen. Um das Ganze zu retten, hatte er zwei Eier dazugetan: Katastrophe mit Ei, so nannte er das Gericht. Und so schmeckte es auch.
    Warum machte Irina eigentlich nie Bratkartoffeln? Mit Spiegelei. Mochte er seit seiner Kindheit. War ihr das zu profan? Und wieso, fragte sich Kurt, während er Zeit genug hatte, den Feuerwanzen auf dem buckligen Neuendorfer Gehweg auszuweichen, wieso sprach sie eigentlich, von Belehrungen unbeirrt, seit dreißig Jahren alle langen Vokale im Deutschen kurz und alle kurzen umgekehrt lang aus: Ruhsische Selle  …
    – Er wollte mich ja heiraten, sagte Nadjeshda Iwanowna plötzlich.
    Kurt wusste nicht gleich, ob sie mit ihm oder sich selbst sprach. Es stellte sich heraus, dass sie Irinas Vater meinte, von dem Irina (die ihn allerdings im Leben nur einmal und nur von weitem gesehen hatte) behauptete,

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