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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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dass er Zigeuner gewesen sei. Was Nadjeshda Iwanowna jedoch abstritt. Zuverlässig war keine der beiden Quellen. Irina neigte dazu, die Welt so zu sehen, wie sie sie sehen wollte, während Nadjeshda Iwanowna, die ja praktisch Analphabetin war, nur ein äußerst fragmentarisches Bewusstsein von den Ereignissen hatte, die rings um sie geschehen waren: Kollektivierung, Bürgerkrieg, Revolution – Kurt hatte Mühe, ihre Berichte nach verlässlichen Anhaltspunkten zu ordnen. Und dass Nadjeshda Iwanowna jetzt, während sie zu Wilhelms Geburtstag schritten, von einer Stadt zu sprechen begann, in die sie gezogen sei, verwirrte ihn sogar für einen Moment:
    – In welche Stadt denn, fragte er.
    Tatsächlich meinte sie Slawa.
    Kurt sah «die Stadt» vor sich: die Schotterstraße, die übermannshohen Bretterzäune links und rechts, hinter denen sich schiefe, eingeschossige Holzbohlenhäuser duckten – eine Siedlung von nicht ganz neuntausend Einwohnern, flach zwischen die Sümpfe gebaut: der Arsch der Welt, dachte Kurt. Es gab wohl kaum einen Ort, der dreckiger, hässlicher, unwirtlicher war als dieses verdammte Nest, in dem er – nach Beendigung seiner Haftstrafe – noch sieben Jahre als sogenannter ewig Verbannter zugebracht hatte. Allerdings, wenn er davon absah, dass er (übrigens ziemlich regelmäßig einmal im Monat) das große Heulen bekommen hatte, wenn er gewahr wurde, wie die Zeit verstrich, ohne dass sich die Aussicht auftat, jemals wieder ein richtiges, ein normales Leben beginnen zu können – wenn er davon absah, musste er zugeben, dass es sogar in dem Drecksnest Gutes gegeben hatte.
    Zum Beispiel die erste Suppe, die Irina für ihn gekocht hatte: Erbsensuppe aus der Tüte oder, genauer, aus dem Paket (frische Erbsen hatte es nicht gegeben). Wie köstlich! Auch wenn sie sich später, als Irina noch einmal so ein Paket aus Slawa mitbrachte, als kaum genießbar erwies …
    Oder morgens schwimmen im Fluss.
    Oder die weißen Nächte, wenn man bis zum Sonnenaufgang zusammen am Feuer saß und allmählich die Zeit zu verlieren begann … Auf ewig verbannt waren sie alle: eine Versammlung der Ewigkeiten. Wie lustig man sein konnte aus lauter Verzweiflung.
    Oder die ersten Fotos, die Irina und er gemacht hatten. Den Fotoapparat hatte ihnen Sobakin aus Swerdlowsk mitgebracht, Entwickler hatten sie sich aus Pottasche und, wie hieß das Zeug, Natriumsulfit gemischt, und zwar, da die Verhältnisse genau stimmen mussten, unter Zuhilfenahme einer selbstgebastelten Balkenwaage sowie einiger als Gewichte dienender russischer Kopeken – und Kurt, der bei den «ersten Fotos» vor allem an bestimmte erste Fotos dachte, an die ersten, wie soll man es nennen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Fotos, erinnerte sich jetzt, während er mit Nadjeshda Iwanowna am Arm zu Wilhelms Geburtstag schritt, ziemlich genau an den Moment, als auf dem Blatt, das im selbstgemischten Entwickler schwamm, die Konturen heraustraten, zaghaft zuerst, kaum deutbar, kaum wusste man, wo oben und unten war, bis vor dem dunkler werdenden Hintergrund plötzlich – weiß und mächtig – Irinas Hüften hervorsprangen: So aufregend, dieser Moment, dass sie vergaßen, das Blatt ins Fixierbad zu legen, und stehend in der Dunkelkammer übereinander herfielen … Schade, dachte Kurt, dass sie die Fotos vor der Ausreise aus der Sowjetunion hatten vernichten müssen.
    Andererseits: Wer weiß, vielleicht war es wie mit der ersten Tütensuppe nach zehn Jahren Lager. Ohnehin mochte Irina von solchen Dingen (wie sie es neuerdings nannte) nicht mehr viel wissen. Ja, sie begann sogar alles, was sie einmal als erotisch und lustvoll empfunden hatte, mehr und mehr abstoßend und niedrig zu finden: eine Art rückwärtsgewandte Schwarzseherei. War das auch ihre ruhsische Selle ? Oder war es die Eierstockoperation? Wie dem auch sei – das Leben mit Irina war auf einmal schwierig geworden. Und die Tatsache, dass Sascha im Westen war, würde es kaum leichter machen.
    Was sagte er eigentlich Charlotte und Wilhelm?
    Das Haus kam allmählich näher. Man sah schon, hoch oben zwischen den herbstlichten Baumkronen, das Turmzimmer mit seinen halbrunden Fenstern und seinen Zinnen. Dort hatte er einst seine Dissertation getippt, und auch wenn der Turm im Grunde den Gipfel einer gewaltigen Geschmacksverirrung darstellte (das ganze Haus war ein ziemlich übler, eklektizistischer Bau – ein neureicher Nazi hatte sich hier noch in den letzten Kriegstagen einen Traum

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