Ruge Eugen
ein Stück Strand, wenn auch menschenleer. Allerdings beginnt es jetzt auch zu nieseln, während der Wind noch immer Sand umherwirbelt, eine seltsame, aufrührerische Stimmung. Autos fahren mit viel zu viel Gas an. Eine Feuerwehrsirene geht. Und plötzlich ist niemand mehr auf der Straße, den Alexander nach dem Weg fragen könnte – dem Weg wohin eigentlich?
Nach zwanzig Minuten hat der Regen über den Sand gesiegt, und auch über Alexanders Glauben, dass es um diese Jahreszeit in Mexiko nicht ernsthaft regnen könne. Sein Hemd, seine Oberschenkel sind nass. Auf einmal gibt es keine freien Taxis mehr, und der Grund wird ihm klar, nachdem er in Richtung Innenstadt marschiert ist, um von dort aus mit dem Bus zurückzufahren: Es fährt auch kein Bus mehr – jedenfalls nicht der, der nötig wäre. Zuerst heißt es: Umleitung. Doch auf der Umleitungsstrecke wartet er vergeblich. Ein Taxi ist nirgends zu sehen. Er fängt an zu frieren, entschließt sich loszugehen.
Unterwegs, in einer Apotheke, versucht er noch einmal, das Ohrenproblem zu lösen. Aber schon, als er mit nassen Schuhen und triefendem Hut eintritt, spürt er den Unwillen im Blick des von seinem Kassenbuch aufschauenden Apothekers. Wie ein begossener Pudel , genau diese Worte sind es, die ihm durch den Kopf gehen, wie ein begossener Pudel steht er vor dem alten Mann, bringt seinen Satz hervor – ohne erkennbare Wirkung. Ein paar Sekunden lang steht er da, sieht, wie sich Tropfen vom Rand seines Huts lösen, während der alte Mann den Blick wieder in seinen Papieren versenkt – oder denkt er über die Frage nach, die Alexander gestellt hat? Alexander verlässt den Laden, ohne den Ausgang der Sache abzuwarten.
Noch eine zweite Apotheke wagt er zu betreten. Diesmal bedient ihn eine junge Frau, die ihn anscheinend sogar versteht, das Wort tampón fällt, das muss es wohl sein: ein Ohren- tampón , aber die Frau schüttelt den Kopf:
– No hay. No tenemos.
Gibt’s nicht. Haben wir nicht. Wozu auch? Was könnte dieses Volk der Krachmacher und Gehörlosen mit Ohrstöpseln anfangen? Ein Volk, das klaglos Rosa-Kaninchen-Filme über sich ergehen lässt. Ein Volk, das es fertigbringt, zwei Hunde auf einem schattenlosen Dach anzuketten, und das nur zu dem Zweck, dass sie den Schlafsuchenden den Schlaf zerbellen …
Er gibt es auf, den Pfützen auszuweichen und die den Fußweg querenden Bäche zu überspringen. Die Füße sind sowieso nass. Alles ist nass, bis auf die Haut, bis darunter. Alles, so kommt es ihm vor, ist durchtränkt von der Trauer, die beständig über den Ozean heranweht, die alles hier in dieser Stadt überschwemmt, die Leute zum Wahnsinn bringt und Ankömmlinge über Bord gehen und im Meer versinken lässt, spurlos. Er kauft in einem supermercado zwei Flaschen Wasser und hat plötzlich den Verdacht, auch das Mineralwasser, das hier in Veracruz in den Supermärkten verkauft wird, könnte verseucht sein mit Trauer.
Dann liegt er in seinem fensterlosen Zimmer. Spürt, wie das Fieber steigt. Nimmt Tabletten, trinkt aus verseuchten Flaschen. Die Klimaanlage rasselt in seine ungeschützten Ohren hinein. Noch einmal steht er auf, schaltet die Anlage ab, aber es dauert nicht lange, dann hat er das Gefühl, keine Luft mehr zu kriegen. Die Kopfschmerzen nehmen zu. Er hört Stimmen aus der Hotelbar. Er quält sich noch einmal hoch, schaltet die Klimaanlage wieder ein, steckt sich Fetzen Klopapier in die Ohren. Nimmt eine weitere Tablette. Zieht sich die Decke über den Kopf.
Er liegt auf der rechten Seite, macht sich ganz klein. Jetzt beginnen Schauer durch seinen Körper zu rieseln, zuerst einseitig, er verfolgt es in der Dunkelheit seiner Bettdecken-Höhle: Von den Nieren her kommend, erfassen sie zuerst die linke, oben liegende Beckenseite, von dort aus die Herzgegend, kriechen dann über den Rücken und zerplatzen auf dem Weg zum Nacken. Was, wenn sein angegriffenes Immunsystem dem Ansturm irgendwelcher fremdartiger Infektionskrankheiten nicht standhält? Der Sauerstoffapparat rasselt in seinem Kopf – auf einmal ist es sein eigener Sauerstoffapparat. Auf einmal ist er selbst der sterbende, alte Mann, dessen Sauerstoffapparat rasselt. Auf einmal kommt es ihm folgerichtig vor, dass er hier stirbt, in diesem Bunker in Veracruz, mutterseelenallein und mit Klopapier in den Ohren: Er hat es nicht anders gewollt. Es ist die logische, die zwingende Konsequenz seines Lebens.
Er muss sich auf die andere Seite drehen, um den Gedanken abzuschütteln. Um
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