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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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lag und er ihren Atem im Schamhaar spürte, war er ein bisschen verlegen gewesen, angesichts dieses Anflugs von Brutalität. Lange hatte er Veras Rücken gestreichelt und über ihre rätselhafte, seit Jahren anhaltende Bereitschaft nachgedacht, ihm gelegentlich zur Verfügung zu stehen. Bratkartoffelverhältnis , das Wort war ihm eingefallen – warum sagte man Bratkartoffelverhältnis ? Verblüfft hatte Kurt festgestellt, dass er diese einfache Frage nicht beantworten konnte, und vielleicht war es, abgesehen vom Hunger, auch das – der Wunsch, diesem merkwürdigen Ausdruck einen Sinn zu verleihen, der ihn auf die Idee gebracht hatte zu fragen:
    – Könntest du mir Bratkartoffeln machen?
    – Klar, hatte Vera gesagt und war aufgestanden und in die Küche gegangen.
    Jetzt roch es nach Bratkartoffeln: Kindheitsgeruch. Kurt schloss die Augen, und der Geruch katapultierte ihn in Sekundenbruchteilen zurück in das Schlafzimmer seiner Eltern, wo er sich (obwohl es nicht erlaubt gewesen war) unter der Decke versteckt hatte. Fast glaubte er die Stimme seiner Mutter zu hören:
    – Kurt, kommst du?
    Er öffnete die Augen. Staunte eine Sekunde lang über die seltsamen Umstände, in die er nach siebzig Jahren Lebens hineingeraten war. Setzte sich auf den Bettrand. Zog seine Unterhose an. Zog den schwarzen, nicht mehr ganz frischen Socken über den linken Fuß. Und wusste plötzlich, und zwar in genau dem Moment, als er zerstreut nach dem anderen, dem rechten Socken Ausschau hielt, dass es so weit war .
    Es gab nichts mehr zu bedenken. Es gab keinen Grund, seine Zeit mit Nebensächlichkeiten zu verschwenden: Rezensionen für die ZfG , ND -Artikel anlässlich irgendwelcher historischer Jubiläen … und sogar die Mitarbeit an dem Sammelband, der, da er Beiträge aus Ost und West enthalten sollte, mit einer durchaus verlockenden Konferenz in Saarbrücken verbunden war, würde er – am besten aus gesundheitlichen Gründen – absagen und sich gleich morgen früh an den Schreibtisch setzen und anfangen, seine Erinnerungen zu schreiben, und zwar (auch das wusste er sofort) beginnend mit jenem Augusttag 1936, an dem er neben Werner an Deck des Fährschiffes stand und zusah, wie der Leuchtturm von Warnemünde im frühen Nebel verblasste.
    – Kommst du, rief Vera.
    – Ja, sagte Kurt.
    Es fröstelte ihn in der feuchten Luft … Und er spürte das Pflaster, mit dem er die fein zusammengefaltete sowjetische Einreisegenehmigung an die Innenseite seines rechten Oberschenkels geklebt hatte.

1991
    Wenn Irina hätte erklären sollen, woher die Aprikosen kamen, die sie für die Füllung ihrer Klostergans benötigte, hätte ein Satz genügt: Die Aprikosen kamen aus dem Supermarkt.
    Auch die Weintrauben kamen aus dem Supermarkt. Die Feigen kamen aus dem Supermarkt. Die Birnen, die Quitten, alles kam aus dem Supermarkt. Unter diesen Umständen, dachte Irina, war es eigentlich keine Kunst, eine Klostergans zu bereiten. Sogar Esskastanien gab es im Supermarkt, fix und fertig gebacken und geschält, und nachdem sie sich letztes Jahr noch gesträubt hatte, Esskastanien fix und fertig im Supermarkt zu kaufen, hatte sie dieses Mal zugegriffen – wozu sich unnötig Arbeit machen? Und doch war es gerade diese Kleinigkeit, die Irina für einen winzigen Augenblick aus dem Konzept brachte, denn normalerweise war dies das Erste, was sie tat: den Backofen anzumachen und, während er vorheizte, die Schalen der Esskastanien kreuzweise einzuritzen … Fehler. Sie drehte den Backofen wieder ab und begann das Obst für die Füllung vorzubereiten.
    Es war kurz nach zwei. Auf den verzinkten Fenstersimsen tickte das Schmelzwasser. Im Küchenradio liefen die Nachrichten des Deutschlandfunks. Gerade war von der bevorstehenden Auflösung der Sowjetunion die Rede.
    Irina schälte die Quitten dünn ab und schnitt sie dann in etwa ein Zentimeter große Würfel. Die Quitten waren hart, die Finger taten ihr weh. Bei solchem Wetter schmerzten ihre Gelenke besonders: der Rücken, die Hände … Und wer weiß, dachte Irina, während im Radio wieder einmal von der aserbaidschanischen Region Berg-Karabach die Rede war, wo Armenier (die Irina, und zwar nicht nur wegen ihres vorzüglichen Kognaks, für ein großes Kulturvolk hielt) heute Nacht zwanzig Zivilisten umgebracht hatten, wer weiß, dachte sie, was sie sich noch für Schäden zugezogen hatte: die Holzschutzmittel, die sie eingeatmet hatte. Der Kamilit-Staub, von dem es auf einmal hieß, dass er krebserregend

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