Ruge Eugen
sei … und alles vergeblich.
Irina spreizte ein paarmal die Finger und erinnerte sich an ihren Vorsatz, heute nicht an das alles zu denken – ein Vorsatz, der nicht leicht zu erfüllen war, wenn man schon morgens mit einem unguten Gefühl im Bauch zum Briefkasten ging und die Post zuerst daraufhin überprüfte, ob ein gerichtliches Schreiben dabei war … Dumm, ja natürlich! Dumm war es gewesen, das Haus nicht zu kaufen. Andererseits: Wer weiß, ob die Kommunale Wohnungsverwaltung das Haus überhaupt verkauft hätte? Hätte sie fragen sollen? Niemand hatte gefragt. Alle Häuser in der Umgebung hatten der Kommunalen Wohnungsverwaltung gehört, und kein Mensch (außer diesem merkwürdigen Harry Zenk) war auf die Idee gekommen, das Haus, in dem er wohnte, auch noch zu kaufen: Wozu, wenn man irgendwelche hundertzwanzig Mark Miete bezahlte?
Und schon war sie mittendrin, in diesem Hätte-würde-könnte-Spiel. Ein Kognak täte gut, dachte Irina, während der Bundestag ein Gesetz zur Einführung der Mütterunterstützung in den sogenannten neuen Bundesländern beschloss – damit waren sie gemeint, der Osten, seltsame Wortbildung, die neuerdings auftauchte: als hätte man diese «neuen» Länder gerade entdeckt, wie Kolumbus Amerika … O ja, ein Kognak täte jetzt gut, dachte sie, um das Gehirn ein bisschen von den immer gleichen Gedanken abzubringen … aber sie hatte sich vorgenommen, heute nicht zu trinken, nicht nur wegen Charlotte, die sie nachher noch aus dem Pflegeheim abholen musste. Anschließend kamen die Kinder, Sascha mit dieser Catrin. Da musste sie nüchtern sein, wenn es nicht wieder zum Eklat kommen sollte.
Ersatzweise zündete sie sich eine Zigarette an. Im Radio ertönte der wohlbekannte Piepton, und Irina hielt inne und lauschte … dumme Angewohnheit. Früher hatte sie die Verkehrsmeldungen ignoriert, wie jeder normale Mensch. Aber seit Sascha in diesem Moers wohnte – ein Ortsname, der in Irinas Ohren wie mjörs , russisch: fror klang –, seit er in diesem Moers wohnte, hatte sie hinzuhören begonnen, weil dieses Moers zu ihrer Überraschung hin und wieder in den Verkehrsmeldungen genannt wurde: A 57 Nijmegen Richtung Köln: zwischen Kamp-Lintfort und Autobahnkreuz Moers fünf Kilometer Stau – solche Meldungen waren es, die ihr das Gefühl gaben, dass Sascha noch existierte. Und auch heute, da Sascha hierher, nach Neuendorf, unterwegs war, versuchte sie, anhand der Ortsnamen zu erraten, wie viel Verspätung er haben würde, und schickte winzige Gebete zum Himmel, wenn irgendwo von einem Unfall die Rede war.
Eigentlich hatte sie gehofft, dass der Fall der Mauer Sascha wieder in ihre Nähe bringen würde. Das war ihr erster Gedanke gewesen, als sie im Fernsehen die Bilder sah von Menschen, die sich weinend in den Armen lagen, und sie hatte hemmungslos mitgeweint und sich über Kurt geärgert, der die ganze Zeit stumm in den Fernseher geschaut und sich eine Pfeife nach der anderen gestopft hatte. Sie hatte geweint und gegen den idiotischen Gedanken angekämpft, dies alles geschehe nur ihretwegen.
Aber anstatt zurückzukommen, war Sascha noch weiter weggezogen. Anstatt wieder nach Berlin zu gehen, wo die unglaublichsten Dinge passierten, anstatt daran teilzunehmen, anstatt seine Chance zu nutzen, zog er nach Moers … Was hätte aus ihm werden können, dachte Irina. Es schmerzte sie, wenn sie sah, was für jämmerliche Figuren neuerdings im Fernsehen auftraten, während Sascha in seinem Moers saß, irgendwo an der holländischen Grenze. Ein Ort, den nicht einmal Kurt kannte … Und warum? Weil Catrin dort ein Engagement bekommen hatte: am Theater in Moers! Zu mehr hatte es wahrscheinlich nicht gereicht, dachte Irina.
Aber nach dem Eklat, den es beim letzten Besuch der beiden im Sommer gegeben hatte, war sie entschlossen, nichts mehr zu diesem Thema zu sagen. Die kurze Zeit, die Sascha in Neuendorf verbringen würde, war zu kostbar, um sich zu streiten. Inzwischen musste man froh sein, dass er überhaupt kam. Im letzten Jahr hatten die beiden kurz vor Weihnachten abgesagt und waren – seltsame Idee – über die Feiertage auf die Kanarischen Inseln geflogen, und Irina hatte Weihnachten allein mit Kurt und Charlotte verbracht. In diesem Jahr jedoch war sie entschlossen, noch einmal ein richtiges Weihnachtsfest stattfinden zu lassen: Wer weiß, vielleicht war es das letzte Mal in diesem Haus. Aber auch darüber, nahm sie sich vor, würde sie am heutigen Abend schweigen.
Sie würde eine
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