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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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zusammengebrochene Buffet herum entwickelte.
    Auf seiner Unterlippe spürte er den Abdruck von Melittas Stirn.
    Der Goldbrand roch widerlich.
    Er kippte ihn runter, stellte den Becher aufs nächstbeste Regal. Dann setzten sich seine Füße in Gang, trugen ihn aus dem Zimmer, durchquerten die Diele und traten, den kleinen Vorraum passierend, ins Freie.
    Er ging ein bisschen zu eilig, als könnte ihn jemand im letzen Augenblick noch zurückrufen. Als er das Gefühl hatte, einigermaßen außer Reichweite zu sein, stieg ihm eine blasphemische Freude zu Kopf. Kurt ermahnte sich zur Mäßigung. Behielt die Freude in sich. Ließ sie in kleinen Portionen entweichen.
    Erst nach dreihundert Metern fiel ihm ein, dass er Nadjeshda Iwanowna vergessen hatte. Sein Schritt verlangsamte sich, ihm kam sogar der Gedanke, dass er umkehren müsse – aber warum eigentlich? Sie würde auch ohne ihn nach Hause finden … Kurt nahm seinen Schritt wieder auf, ging weiter. Ging den Fuchsbau entlang. Ging bis zur Nummer sieben, wo Irina vermutlich betrunken auf ihrem Sofa lag …
    Ging vorbei an der Nummer sieben.
    Er ging bis zum Ende der Straße, bog in den Seeweg ein. Er folgte dem Seeweg, wo die Häuser, je weiter man sich vom See entfernte, immer profaner wurden. Die Heinestraße führte ihn ganz aus dem Villenviertel heraus und ins ehemalige Weberviertel, den ältesten Teil Neuendorfs. Hier waren die Häuser so niedrig, dass man die Dachrinnen mit der Hand erreichte. Kurt folgte dem Zickzack der kurzen, kopfsteingepflasterten Straßen, die in dieser Gegend, wo es aus offenen Fenstern nach Küche und Alkohol roch, Klopstock-, Uhland- und Lessingstraße hießen. Länger war die Goethestraße, die am Friedhof vorbei zur Karl-Liebknecht-Straße führte, welche wiederum länger als die Goethestraße war. Am Rathaus von Neuendorf hätte Kurt eine Straßenbahn abpassen können – er hörte sie mit barbarischem Quietschen die Rechtskurve nehmen, ging aber weiter. Erreichte die noch wesentlich längere Friedrich-Engels-Straße, die Neuendorf mit der Stadt verband, und durchschritt, gerade als die Bahn ihn rasselnd und rumpelnd überholte, den Engpass, an dem es ständig Verkehrsunfälle gab und an dessen Ausgang, über der mit Stacheldraht bewehrten Mauer des Reichsbahnausbesserungswerks, seit Jahren (oder Jahrzehnten?) ein blassrotes Transparent mit der Aufschrift Der Sozialismus siegt! vor sich hin rottete.
    Laub rauschte unter seinen Füßen, als er die lange Strecke am Reichsbahnausbesserungswerk abschritt. Er überquerte die sogenannte Lange Brücke, passierte Fahrbahn und Schienen, bog am Interhotel ab und kam über die Wilhelm-Külz-Straße zur Leninallee, Potsdams längster, wenn auch gewiss nicht schönster Straße. Er folgte ihr zwei oder drei Kilometer stadtauswärts, während die Straße immer dunkler zu werden schien, und bog dort, wo kaum noch eine Laterne brannte, rechts ein.
    Gartenstraße. Das zweite Haus links. Kurt klingelte zweimal kurz und wartete, bis sich oben im zweiten Stock ein Fenster öffnete.
    – Ich bin’s, sagte er.
    Dann ging im Hausflur das Licht an, Schritte waren auf der Treppe zu hören. Der Schlüssel knirschte in dem altertümlichen Schloss.
    – Na, das ist ja ’ne Überraschung, sagte Vera.
     
    Eine Stunde später lag Kurt rücklings auf Veras Bett, noch in derselben Haltung, in der Vera es ihm, wie er es nannte, «mündlich» besorgt hatte, und nahm den unverwechselbaren Geruch von gebratenem Speck wahr, der durch die Wohnung geisterte. Er fühlte sich erleichtert, aber auch ein bisschen enttäuscht, ohne sicher zu sein, ob es die typische postkoitale Ernüchterung war oder ob er zugeben sollte, dass es nicht ganz so gewesen war, wie er es erwartet hatte: Veras Schlafzimmer (er hatte es zum letzten Mal vor drei Jahren gesehen) erschien ihm noch verkramter und muffiger als in der Erinnerung. Das Licht ihrer Nachttischlampe war grell und hatte die blauen Äderchen auf ihren – er hatte noch immer kein anderes Wort dafür – Dingern auf ungünstige Weise beleuchtet. Aber besonders hatten ihn die Falten gestört, die sich, während sie es ihm besorgte, vor Anstrengung auf ihrer Stirn gebildet hatten. Plötzlich hatte ihn der Gedanke belästigt, er tue es mit einer alten Frau, und er hatte die Störung nur dadurch beheben können, dass er ihren Kopf in die Hände nahm und ihr – ein kleines bisschen brutal – seinen Rhythmus und seine Tiefe aufnötigte.
    Als danach ihr warmes Gesicht auf seinem Bauch

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