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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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«Sozialfaschisten» verunglimpft und sie sogar als das – im Vergleich zu den Nazis – schlimmere Übel dargestellt hatte. Eigentlich, dachte Kurt, immer noch klatschend , war Wilhelm – ganz objektiv betrachtet – persönlich mitverantwortlich, dass die linken Kräfte sich während der zwanziger Jahre gegenseitig zerrieben und der Faschismus in Deutschland am Ende siegreich gewesen war. Noch 1932, erinnerte sich Kurt, schon wieder klatschend (nämlich nachdem Wilhelm der Vaterländische Verdienstorden in Gold angesteckt worden war) – noch 1932 hatte Wilhelm als zweiter Gauleiter des RFB in Berlin eine große, gemeinsame Aktion von Nazis und Kommunisten mitorganisiert. Und noch nach der «Machtergreifung», die in seiner Biographie nicht erwähnt wurde, hatte Wilhelm die Sozialfaschismus-These vertreten, welche erst 1935 offiziell korrigiert worden war, um schon nach wenigen Jahren durch einen Freundschaftsvertrag zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland an Dummheit und Obszönität übertroffen zu werden: Alles Lüge, dachte Kurt, immer weiter klatschend . Die ganzen zwanziger Jahre waren eine einzige Lüge – und die dreißiger Jahre auch. Auch der «antifaschistische Widerstand» war im Grunde genommen nichts als eine Lüge, denn der Grund, aus dem Wilhelm nicht über diese Zeit sprach, war nicht oder nicht nur, dass er ein hoffnungsloser Angeber und Geheimniskrämer war, sondern dass die Geschichte des antifaschistischen Widerstands nichts anderes war (und vor dem Hintergrund der sowjetischen Politik auch nichts anderes hatte sein können!) als eine Geschichte des Misserfolgs , der Bruderkämpfe , der Fehleinschätzungen und des Verrats – nämlich des «großen Steuermanns» an denen, die in der Illegalität ihre Köpfe hinhielten. Als Kurt dann endlich, allerdings nur knapp vor der Allgemeinheit, aufhörte zu klatschen, war von der Opposition nicht mehr übrig geblieben als ein komisches Gefühl … in der Hose.
    Im ersten Moment, nachdem das kalte Buffet eröffnet worden war, zögerte er sogar aufzustehen, weil er befürchtete, auf seiner Hose könnte sich ein Fleck gebildet haben (was sich bei näherer Prüfung als unsinnig erwies), aber dann blieb auch Melitta sitzen, und Kurt vermutete, dass sie sitzen blieb, um ihn nach Sascha zu fragen, und blieb ebenfalls sitzen. Aber sie fragte nicht. Und bevor Kurt sich zu irgendetwas entschließen konnte, kam Bunke schon mit vollbeladenem Teller zurück, und gleich darauf kamen Harry Zenk und Anita, und sofort war die Gorbatschow-Diskussion wieder im Gang:
    – Wir müssen unseror Bevölgerung die Woahrheit soagen, forderte Bunke.
    Und Kurt, vielleicht weil es ihn ärgerte, dass Melitta dem nickend zustimmte, mischte sich nun doch ein:
    – Und wer bestimmt, was die Wahrheit ist?
    Bunke schaute ihn verblüfft an.
    – Wer bestimmt das, fragte Kurt. Bestimmen wir das? Oder Gorbatschow? Oder wer?
    – Genau, sagte Zenk. Die Wahrheit ist immer parteilich.
    – Nein, sagte Kurt und ärgerte sich, dermaßen missverstanden worden zu sein. Die Wahrheit, sagte er oder wollte es sagen – der Satz, den zu bilden er im Begriff war, hätte in etwa gelautet: Die Wahrheit ist nicht etwas, das die Partei besitzt und an die Bevölkerung als eine Art Almosen austeilt (worauf vermutlich einige grundsätzliche Betrachtungen zum sogenannten Demokratischen Zentralismus, den realsozialistischen Machtstrukturen und der Rolle der Partei im Sowjetsystem gefolgt wären) –, aber dazu kam es nicht, weil die Aufmerksamkeit sich schon längst von ihm ab- und einem Bereich schräg links hinter ihm zugewandt hatte, zu der Ecke nämlich, wo Wilhelm in seinem Sessel saß und – nicht zu glauben – sang .
    Zuerst erschien es Kurt als Gemurmel. Er brauchte einen Moment, um es überhaupt als Gesang zu erkennen, und erst als die Möpse schon im Takt mitnickten und Mählich nicht ganz textsicher (oder nicht sicher, ob man die Stalin-Stelle noch mitsingen durfte) einstimmte, begriff er, was Wilhelm da sang: Nee, dümmer ging’s nicht. Oder nein, nicht dumm, dachte Kurt, sondern verbrecherisch . Im Grunde, dachte er, war es die kürzeste Formel für das gesamte Elend. Im Grunde genommen, dachte er, war es die Rechtfertigung allen Unrechts, das im Namen der «Sache» begangen worden war, die Verhöhnung von Millionen Unschuldigen, auf deren Knochen dieser sogenannte Sozialismus errichtet worden war: die berühmte Parteihymne, die irgendein Waschlappen von Dichter (war es Becher oder war

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