Ruge Eugen
die Kinder …
– Ich trinke nicht!
– Gut, sagte Kurt, ist ja gut! Und verließ die Küche.
Irina füllte die Kasserolle zwei Finger hoch mit heißem Wasser, legte die Gans hinein, schob sie mit geschlossenem Deckel in die Röhre und stellte die Kurzzeituhr auf eineinhalb Stunden. Dann zupfte sie die äußeren Blätter vom Rotkohlkopf ab, nahm das große Messer und halbierte den Kopf mit einem gewaltigen Schlag. Und dann nahm sie das Fruchtsaft-Whisky-Gemisch – und trank es. Erstens war es kein richtiger Alkohol. Zweitens ärgerte sie sich.
Sie nahm wieder das große Messer zur Hand und begann, den Rotkohl in feine Scheiben zu schneiden … O ja, sie ärgerte sich. Nicht nur, weil er ihr unterstellte, zu trinken – das auch! Aber auch wegen dieser vorwurfsvollen, beleidigten Tonart … Als sei es sonst was für eine Zumutung, dass er seine Mutter abholte. Und sie, Irina, hatte auch noch ein schlechtes Gewissen! Dabei war es doch seine Mutter! Wieso galt es als selbstverständlich, dass sie zum Pflegeheim fuhr? Bloß weil Kurt nicht Auto fahren konnte? Wenn es danach ging, konnte er gar nichts … Und so war es ja auch.
Kurt kümmerte sich um nichts, dachte Irina, während sie Rotkohl schnitt. Gewiss, so war es früher schon gewesen. Aber in letzter Zeit war es schlimmer geworden. Sie verstand ja, dass ihn das alles aufregte. Er kämpfte gegen die, wie es neuerdings hieß: «Abwicklung» seines Instituts. Ständig war er unterwegs. Fuhr nach Berlin, öfter als früher, sogar in Moskau war er noch einmal gewesen, weil irgendein Archiv plötzlich zugänglich war. Er schrieb ständig Briefe, Artikel. Hatte sich extra eine neue Schreibmaschine gekauft: elektrisch! Vierhundert Mark! Kurt, den man schlagen musste, damit er sich ein Paar Schuhe kaufte, hatte sich für vierhundert Westmark eine Schreibmaschine gekauft – während sie noch immer ein schlechtes Gefühl hatte, wenn sie das wertvolle neue Geld für Butter und Brötchen ausgab …
Dabei war noch nicht einmal heraus, wie viel Rente Kurt nun, nach der Umstellung, bekommen würde. Von ihrer eigenen Rente ganz zu schweigen. Plötzlich sollte sie irgendwelche Arbeitsnachweise aus Slawa erbringen: Was für eine Bürokratie! Und dabei hatte sie immer geglaubt, die DDR sei bürokratisch … Auch ihre Zusatzrente würde sie vermutlich nicht mehr bekommen (die DDR hatte ihr eine Rente als sogenannte Verfolgte des Naziregimes zuerkannt, als Ersatz für die Ehrenrente, die sie als «Kriegsveteranin» in der Sowjetunion bekommen hätte): Kaum anzunehmen, dass die westdeutschen Behörden sie dafür belohnen würden, dass sie als Gefreite der Roten Armee gegen Deutschland gekämpft hatte … Und wenn sie jetzt noch das Haus verloren, dann gute Nacht. Selbst wenn man sie nach der «Rückübertragung» – auch eins der Wörter, die mit der Wende gekommen waren – weiter hier wohnen ließe, würden sie die Miete auf Dauer kaum zahlen können. Und die Ironie dabei war, dass sie selbst durch den Ausbau des Dachbodens und den Anbau des Zimmers für Nadjeshda Iwanowna die Wohnfläche des Hauses – und damit die zu erwartende Miete – beinahe verdoppelt hatte.
Sie goss sich noch einen winzigen Schluck ein. Bis sie Charlotte wieder ins Pflegeheim bringen musste, war der Alkohol längst wieder raus. Den einen! Dann, versprochen, stellte sie die Flasche in die Speisekammer. Aber diesen einen brauchte sie jetzt: Die Vorstellung, dass irgendwann, bald, fremde Leute hier einziehen würden, fraß mächtig an ihren Eingeweiden. Und fast noch schlimmer als der Gedanke, dass sie schamlos alles so, wie es war, übernehmen würden, war die Vorstellung, dass die neuen Besitzer alles abreißen würden, weil das DDR-Zeug ihnen nicht gut genug war … Sie sah ihre Küchenfliesen schon auf dem Schutthaufen liegen … O ja, sie erinnerte sich genau, wie sie diese Fliesen bei strömendem Regen in irgendeinem Hinterhof auf ihren Anhänger geladen hatte. Sie erinnerte sich an das halunkische Gesicht des Hausmeisters, der die Mischbatterie von irgendeinem Kontingent der Bezirksleitung «abgezweigt» hatte … Sie erinnerte sich an alles, und sie erinnerte sich, als sie einen wirklich allerletzten Schluck aus der Flasche nahm, auch an das, was Kurt vor zwei Wochen zu ihr gesagt hatte:
– Dann suchen wir uns eben eine praktische kleine Wohnung. Das Haus ist doch sowieso zu groß für uns zwei!
Noch immer tickte das Schmelzwasser auf den Zinkblechen. Das Radio berichtete wieder
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