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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Töpfe mit Palmen, die sogar auf die Entfernung unecht aussahen. Etwas weiter vorn stand ein hölzernes Rednerpult, das mit schwarzem Stoff beschlagen war – ziemlich unsauber, eine Reißzwecke fehlte, und der Stoff schlappte an dieser Stelle herunter. Dann entdeckte er Opa Kurt, vorn rechts, in der ersten Reihe: ein grauer Kopf, in dessen Mitte sich ein kahler Kreis abzeichnete, und der dort, rechts daneben, das war er.
    Musik erklang, klassisch, ein bisschen quäkend über stark unterdimensionierte Lautsprecher. Das Gedränge beruhigte sich. Die Leute senkten die Köpfe. Dann trat eine Frau an das unsauber beschlagene Pult, keine Pastorin, wie man sofort sah, und begann zu reden:
    Irina, liebe Irina, sagte die Frau, als würde sie zu Oma Irina sprechen, noch viel Zeit bleibt bis zum Abschied – immer narrt uns dieser Gedanke … Aber wo war sie eigentlich?
    Markus reckte sich. Dort vorn hatten die Leute ihre Blumen und Kränze abgelegt, ein riesiger Haufen um einen kniehohen schwarzen Hocker herum, auf dem wiederum so etwas wie eine Vase stand – aber wo war der Sarg? Umso seltsamer erschien es ihm, dass die Frau Oma Irina immerzu mit «du» ansprach, als säße sie mitten unter den Leuten im Raum … Dir waren die Menschen willkommen, an deine Tür klopften wir … Und auch wenn es vollkommen dämlich war, prüfte er vorsichtshalber, ob er nicht alles irgendwie missverstanden hatte, ob Oma Irina nicht einfach dort neben Opa Kurt in der vorderen Reihe saß, oder neben ihm, seinem Vater, aber natürlich saß sie nicht da. Stattdessen saß dort die Tussi . Er schluckte vor Enttäuschung.
    Nausikaa nannte ich dich, sagte die Frau am Rednerpult … Wer war Nausikaa? Keine Ahnung … die Frau, aus antiker Zeit zu uns herübergekommen … Er blickte sich vorsichtig um: Kapierte der Typ mit dem rotblauen Kopf, wovon hier die Rede war? … von Kriegszügen, Verbannung, Völkerwanderung, diese Frau, die unlebbares Leben lebbar macht … Der Kopf nickte … dazu gehörtest du, Irina. Das konntest du … Der Kopf nickte wieder – und Markus stellte sich vor, wie er die Schrotflinte rausholte und diesen blöden, nickenden Kopf wegballerte.
    Dann sprach die Frau plötzlich vom Kochen: … aber es war nicht Wasser, was hier zur Suppe gegossen wurde , sagte die Frau. Zuerst glaubte Markus, sich verhört zu haben. Aber es war wirklich vom Kochen die Rede, zumindest vom Tischdecken: Dein Tisch war ein Kunstwerk , sagte die Frau, und dann wieder etwas geschraubt: Dein Tisch, die Gäste auffordernd, sich zu setzen, zu reden.
    Pause.
    Wusstest du, wie kostbar er war?
    Pause.
    Haben wir es dir gesagt?
    Früher, erinnerte er sich, ganz früher, da hatte die Oma manchmal Pelmeni gemacht, und er durfte helfen. Er wusste bis heute, wie es ging: Wie man den Teig anrichtete, ihn zu einer Wurst rollte. Wie man Scheibchen von der Wurst abschnitt und sie in Mehl (damit sie nicht festklebten), aber nicht in zu viel Mehl (damit sie sich weiterverarbeiten ließen) zu dünnen, knapp handtellergroßen Plättchen ausrollte. Und dann das Schwierigste … Und während die dünne Stimme der Nichtpastorin durch die geöffnete Flügeltür an ihm vorbei ins Freie flog, verschlug es ihn für Augenblicke in Oma Irinas Küche, er hatte den unverwechselbaren Geruch von Teig und Zwiebeln und rohem Hackfleisch in der Nase, und seine Daumen und Zeigefinger erinnerten sich präzise an die knifflige Prozedur: Einen Teelöffel Hackfleisch auf jeweils ein Plättchen tun, das Plättchen zu einem Halbmond zusammenklappen, es ringsherum zudrücken und schließlich die beiden Ecken des Halbmonds zusammenziehen und aneinanderheften, sodass eine Art Hütchen entstand … Hüttchen , wie Oma Irina sagte, man konnte es ihr hundertmal vorsprechen, sie sagte es doch wieder falsch, und obwohl Frickel nie dabei gewesen war, hatte Markus sich immer ein bisschen geschämt, dass seine Oma so «russisch» Deutsch sprach.
    Dein Stuhl bleibt leer, hörte er die Nichtpastorin sagen. Einen Augenblick hatte er einen Kloß im Hals, vielleicht weil er an den alten, abgeschabten Küchenstuhl denken musste, auf dem er beim Pelmenimachen gekniet hatte. Dann hörte er neben sich jemanden schluchzen und war wieder in der Gegenwart.
    Sah die Plastikpalmen.
    Sah das schlampig mit schwarzem Stoff beschlagene Pult.
    Spürte seine vor Kälte schmerzenden Füße.
    Und wir müssen es ertragen, sagte die Nichtpastorin.
    Sie ließ eine Pause.
    Die Stunde ist da.
    Das Schluchzen nahm zu.

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