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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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Stockwerk sämtliche Türen! Alles, was Holz war, strich Wilhelm mit rotbrauner Fußbodenfarbe, und wenn man ihn fragte, warum er alles mit rotbrauner Fußbodenfarbe streiche, dann sagte er: Weil rotbraune Fußbodenfarbe am haltbarsten sei!
    Was kam eigentlich über dem Kreisarzt? Bezirksarzt?
    Oder das Bad. Sollte man ebenfalls fotografieren. Alles kaputt. Alles hatte er aufgehämmert mit dem Elektrohammer. Mosaikfliesen, kriegte man niemals wieder. Und warum? Weil er eine Fußbodenentwässerung hatte einbauen müssen. Fußbodenentwässerung! Seitdem ging das Licht in der Diele nicht mehr. Ja bitte schön, das war doch gefährlich! Wenn das Elektrische mit dem Wasser in Berührung kam! Handfeste Fakten …
    Den ganzen Tag fabrizierte Wilhelm nichts als handfeste Fakten. Im Grunde genommen tat er überhaupt nichts anderes mehr. Vergriff sich an Dingen, von denen er nichts verstand. Reparierte Sachen, die hinterher kaputt waren. Und wenn sie ihm nicht hin und wieder zur Beruhigung ein, zwei Löffel Baldriantropfen in seinen Tee mischen würde, wer weiß, dann wäre dieses Haus wahrscheinlich längst abgebrannt oder eingestürzt, oder sie wäre bereits an einer Gasvergiftung gestorben!
    Oder seine Terrassenaktion. Das war überhaupt das Schlimmste. Warum hatte sie nichts unternommen? Die Polizei gerufen? Nur zwei Zentimeter, hieß es … weiß der Teufel, warum: Weil ihn das Moos zwischen den Natursteinplatten gestört hatte! Deshalb betonierte er die Terrasse! Das heißt, Schlinger und Mählich betonierten. Und Wilhelm kommandierte. Spannte irgendwelche Stricke, fummelte mit dem Zollstock herum. Und was war das Resultat? Jetzt lief das Regenwasser in ihren Wintergarten. Der Fußboden hatte sich aufgelöst. Die Tür zur Terrasse war aufgequollen, die Scheibe geborsten …
    Und was sagte der Süß?
    – Das ist bedauerlich, sagte der Süß.
    Bedauerlich! Ihr Ein und Alles! Ihr Arbeits- und Schlafraum! Ihr Rückzugsgebiet! Ihr kleines Stück Mexiko, das sie sich über die Jahre bewahrt hatte – vernichtet. Nun stieg sie mehrmals täglich die vierundvierzig Stufen zum Turmzimmer hinauf, wo der Wind durch die Ritzen pfiff, wo sie, in Decken eingehüllt, am Schreibtisch sitzen musste. Wo es an heißen Tagen nach Staub und Dachbalken roch – ein Geruch, der sie auf demütigende Weise an den Geruch in der Kammer erinnerte, in die ihre Mutter sie zur Strafe einzusperren pflegte.
    Schon beim Gedanken daran begann ihr Atem zu rasseln. Sie überlegte, ob sie doch noch einmal zehn Tropfen Aminophyllin nehmen sollte. Allerdings hatte sie heute bereits zwei Mal Aminophyllin genommen, und seit Doktor Süß ihr gesagt hatte, dass eine Überdosis zur Lähmung der Atemwegsmuskulatur führen konnte, hatte sie ständig Angst, ihr Atem könnte stehenbleiben, plötzlich, in der Nacht, könnte sie aufhören zu atmen. Sie könnte aufhören, da zu sein, ohne es selbst zu bemerken … Nein, den Gefallen würde sie Wilhelm nicht tun. Noch war sie da , und sie war entschlossen zu bleiben . Sie hatte noch einiges vor – wenn Wilhelm mal aus dem Haus war. All die Dinge, von denen Wilhelm sie abhielt: leben, arbeiten, reisen! Einmal noch nach Mexiko … Ein einziges Mal die Königin der Nacht blühen sehn …
    Jetzt kam es ihr vor, als hätte es an der Tür gekratzt. Oder war das ihr Atem? Charlotte rührte sich nicht von der Stelle. Sie schaute, ob die Klinke der Küchentür sich bewegte, aber stattdessen … sie erschauerte: Langsam, sehr langsam öffnete sich die Tür zum Dienstbotenflur, die sie eben geschlossen hatte, und es erschien, schwach angeleuchtet vom Kellertreppenlicht … etwas Entsetzliches … Krummes … mit abstehenden Haaren …
    – Nadjeshda Iwanowna, rief Charlotte. Haben Sie mich erschreckt!
    Es stellte sich heraus, dass Nadjeshda Iwanowna ihren Mantel gesucht und sich dabei im Keller verirrt hatte. Tatsächlich hatte Charlotte angewiesen, die Mäntel in den Keller zu bringen, weil die Garderobe ja voller Blumenvasen stand. Allerdings hatte Lisbeth die Mäntel wieder nach oben gebracht, als die Leute gingen. Nur Nadjeshda Iwanowna hatte ihren Mantel nicht bekommen, also musste er wohl noch im Keller sein, aber im Keller war er nicht, sagte jedenfalls Nadjeshda Iwanowna, und allmählich begann die Sache Charlotte auf die Nerven zu gehen. Sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als sich um den Mantel von Nadjeshda Iwanowna zu kümmern!
    Aber dann hing der Mantel auf einmal in der Garderobe. Einen Augenblick

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