Ruge Eugen
Auch der rotblaue Kopf wischte sich jetzt eine Träne aus dem Auge. Aber je mehr es rings um ihn schluchzte, desto weniger fühlte er.
Wir müssen Abschied nehmen .
Pause.
Hab Dank .
Die quäkende Musik setzte wieder ein. Plötzlich tauchte – woher? – ein Männlein auf, das aussah wie ein geschrumpfter Fisch in einer altertümlichen Bahnuniform. Obendrein trug es eine mit einem Riemen unter dem Kinn befestigte Eisenbahnermütze. Das Männlein nahm dieses So-etwas-wie-eine-Vase vom Sockel und trug es wie eine Torte oder wie einen Pokal vor sich her, ganz langsam, und hinter dem Männchen kamen die anderen Leute, und die Ersten, die kamen, waren sein Vater und Opa Kurt. Die vor der Tür standen, bildeten jetzt automatisch so etwas wie ein Spalier, und er, Markus, stand plötzlich ganz vorn im Spalier. Er hätte seinen Vater berühren können. Ja, er berührte ihn fast! Aber sein Vater ging an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken.
Markus blieb neben dem Ausgang stehen, schaute der immer länger werdenden Prozession hinterher. Sie bewegte sich die Allee entlang, bog rechts ab, bog, als die Letzten hinter der Kurve verschwunden waren, noch einmal rechts ab und kroch dann, angeführt von dem Männlein mit der Eisenbahnermütze, wieder in die entgegengesetzte Richtung zurück, bis das Männlein stehen blieb. Hier war der Rasen frisch umgegraben, ein breiter Streifen, wie ein Gemüsebeet, das in lauter kleinere Beete unterteilt war. Auf den ersten lagen schon Blumen, und dort, wo die Blumen aufhörten, war in der Erde ein Loch, so groß, dass dieses So-etwas-wie-eine-Vase gerade hineinpasste, und in dem Moment, als das Männlein sich hinunterbeugte, um dieses So-etwas-wie-eine-Vase in dem Loch zu versenken, begriff Markus zweierlei:
Erstens begriff er, warum das Männlein seine Eisenbahnermütze mit einem Riemen unter dem Kinn befestigt hatte.
Zweitens begriff er, dass das , dieses So-etwas-wie-eine-Vase , seine Oma Irina war.
Auf dem Rückweg begann es zu regnen. Sein alter Soldatenmantel war schwer. Es dauerte ewig, bis seine Füße warm wurden.
1. OKTOBER 1989
Noch immer fühlte sie sich wie vor den Kopf geschlagen. Mit Mühe hatte sie die Verabschiedung hinter sich gebracht; hatte Hände geschüttelt, hatte gelächelt; hatte sich Bunkes betrunkenes Geschwätz angehört; hatte Anita zugenickt, die nicht müde wurde zu beteuern, wie schön der Geburtstag trotz allem gewesen sei … Hatte sich noch einmal bei Zenk entschuldigt.
Jetzt stand sie im Salon und betrachtete das Chaos, das Wilhelm verursacht hatte … Wie ein verunglückter Vogel kam ihr der Ausziehtisch vor. Die beiden Platten ragten schräg in die Luft. Das Zeug auf dem Fußboden: Eingeweide eines verendeten Tiers.
Am liebsten hätte sie sofort Doktor Süß angerufen: Handfeste Fakten – hatte er das nicht gesagt?
– Genossin Powileit, da brauchen Sie schon handfeste Fakten!
Da hatte er seine «handfesten Fakten».
Sie trat einen Schritt vor, befühlte die Spitze des Nagels, der in der Tischplatte stak … klopfte probehalber gegen das Holz. Prüfte, ob es jenem grausigen Geräusch nahekam, mit dem die Tischplatte gegen Zenks Schädel geprallt war, als er sich auf das Buffet gestützt hatte, um sich vom äußersten Rand eine saure Gurke zu angeln … Zenk, ausgerechnet! Sie sah ihn noch vor sich stehen, die zerbrochene Brille in seinen Händen. Zitternd. Die großen Augen schwammen hilflos in seinem Gesicht …
Wer bezahlte eigentlich die Brille?
– Ich fang jetzt mal an, sagte Lisbeth.
Sie stand plötzlich neben ihr.
– Na großartig, sagte Charlotte. Ich dachte schon, du machst erst mal Urlaub.
Sie wandte sich ab und verließ den Raum. Kurz erwog sie, sich ins Turmzimmer zurückzuziehen, für einen Augenblick, um zur Besinnung zu kommen. Es war der einzige Raum, der ihr in diesem Hause noch geblieben war. Aber die vierundvierzig Stufen bis dort oben schreckten sie, und sie beschloss, mit der Küche vorliebzunehmen.
In der Diele stieß sie mit Wilhelm zusammen. Charlotte riss die Arme hoch, die Luft blieb ihr weg. Wilhelm sagte etwas, aber Charlotte hörte es nicht, sah ihn nicht an. Sie schlug einen weiten Bogen um ihn, ging rasch in die Küche. Schloss die Tür. Drehte vorsichtshalber den Schlüssel um, horchte …
Nichts. Nur ihr Atem rasselte verdächtig. Sie griff in die rechte Hosentasche, um zu prüfen, ob die Aminophyllin-Tropfen an Ort und Stelle waren: Sie waren. Charlotte umschloss das Fläschchen fest mit der Faust.
Weitere Kostenlose Bücher