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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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pustete den Traumfänger an, der über ihm am Lattenrost des oberen Bettes hing.
    – Das macht mich ein bisschen traurig, dass du so redest, sagte Muddel.
    – Ich hab überhaupt kein Geschenk, schrie Markus.
    – Ach, ist doch egal, sagte Muddel.
    – Das ist überhaupt nicht egal.
    Muddel überlegte einen Augenblick und hatte, wie immer, sofort eine Lösung:
    – Schenk ihm doch eins von deinen Schildkrötenbildern!
     
    Großkrienitz, Dorfkern hieß die Haltestelle. Ihr Hof lag am Dorfrand, sogar etwas außerhalb. Er ging drei Meter hinter Muddel: Sicherheitsabstand, damit sie sich nicht bei ihm einhakte.
    Sie gingen über die toten Gleise, vorbei an der ehemaligen Feuerwehrgarage, wo jetzt irgendwas von der LPG lagerte, vorbei an der Baustelle, wo immer, jedes Wochenende, der Betonmischer röhrte, ohne dass jemals irgendeine Veränderung sichtbar wurde, vorbei an dem von Enten zugeschissenen Dorfteich, vorbei am Konsum, wo sie sich, Frickel und er, manchmal nach der Schule ein Stangeneis gekauft hatten, vorbei an den niedrigen alten Großkrienitzer Häusern, die man für tot hätte halten können, wenn sich nicht hin und wieder im Fenster die Gardinen bewegt hätten. Natürlich war ihm egal, was die Dorf-Iddis dachten, trotzdem war er ganz froh, dass Muddel jetzt wenigstens einen Parka über ihren Klamotten trug, auch wenn der Parka kaum bis über den Rock reichte. Weiter unterhalb blitzten im Sekundentakt ihre gemusterten Waden auf, und man sah und hörte die Stöckelschuhe auf dem stark ramponierten Gehweg von Großkriewitz.
    Falls es ihm gelang, dachte Markus, bis zur Bushaltestelle auf keine Fuge zu treten, dann fiel der Bus aus. Hier fiel öfter ein Bus aus, auf der Strecke verkehrten noch die alten Ikarus-Busse mit Heckmotor, und wenn dieser Bus ausfiel, war die Sache erledigt, denn sonntags fuhr der nächste erst in zwei Stunden. Allerdings durfte man auch auf keine gesprungene Gehwegplatte treten, der Sprung galt als Fuge, und das war nicht so leicht. Muddel beschleunigte den Schritt, und Markus musste sich ziemlich konzentrieren.
    Schon von weitem hörte er das Probengeklimper, das aus der Kirche kam, er brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, wen Muddel grüßte.
    – Nanu, rief Klaus. Wohin soll es denn gehen?
    Klaus war der Pfarrer.
    – Du, wir müssen zum Bus, rief Muddel. Meine Mutter hat heute Geburtstag!
    Markus schaute erstaunt auf, eine Sekunde nur, aber schon war’s passiert.
    – Verdammter Mist, sagte Markus.
    – Aber ihr kommt doch heute abend zur Friedensandacht, sagte Klaus.
    – Mal sehen, ob wir’s schaffen, sagte Muddel.
    – Das ist aber schade, rief Klaus ihnen hinterher. Gerade heute!
    Der Bus fuhr ein, als sie die Haltestelle erreichten.
    Der Heckmotor klirrte leise beim Anfahren. Der alte Ikarus beschleunigte träge. Draußen die Bilder, die er jeden Morgen sah, das Stoppelfeld, die Kiefern, die silbrigen Silagetürme im Hintergrund (von denen Frickel immer behauptet hatte, es seien in Wirklichkeit Abschussrampen für russische Atomraketen).
    Irgendwie hatte er das Gefühl, seiner Mutter Rückendeckung geben zu müssen.
    – Ich geh nicht mehr zu meinem Vater, verkündete er.
    – Was ist denn jetzt los, sagte Muddel.
    Kurz erwog er die Nebenwirkungen dieser Variante: den Wegfall von Berlin, Kino, Naturkundemuseum – allerdings fand das alles so selten statt, dass es ihm plötzlich (und zwar besonders angesichts der Tatsache, dass er irgendwann, bald, groß genug war, allein nach Berlin zu fahren) gar nicht so unmöglich erschien, auf die Gnade des Hin-und-wieder-von-seinem-Vater-abgeholt-Werdens zu verzichten.
    – Der Arsch, sagte Markus.
    – Bitte, Markus!
    – Der Arsch, wiederholte Markus.
    – Markus, ich möchte nicht, dass du über deinen Vater so redest.
    Der Bus hielt kurz, eine Omi stieg ein, setzte sich in die erste Reihe. Als der Bus wieder anfuhr, sagte Muddel:
    – Ich war mit deinem Vater verheiratet, und wir haben dich zusammen bekommen, weil wir uns geliebt haben. Und die Tatsache, dass wir uns getrennt haben, hat mit dir nichts zu tun. Dein Vater hat mich verlassen, nicht dich . Okay?
    – Scheiße Pisse mit Kotze, sagte Markus.
    Irgendwie machte es ihn erst recht wütend, wenn Muddel seinen Vater verteidigte. Er hatte sie beide verlassen – auch ihn! Er hatte seiner Mutter Dinge angetan. Zwar war er noch zu klein gewesen, um sich zu erinnern, behauptete Muddel, aber ein bisschen erinnerte er sich trotzdem daran: an das Verlassenwerden. An den Horror.

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