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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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tat aber so, als falle ihm bloß der Name nicht ein.
    – Umnitzer, sagte Muddel und zeigte auf Markus: Der Urenkel.
    – Der Urenkel, rief der Mann.
    Er ergriff Markus’ Hand und schüttelte sie.
    – Donnerwetter, sagte der Mann. Donnerwetter!
    Das Seltsame war, dass die Wurstfalten auf seiner Stirn unverändert blieben, auch wenn er lachte. Zu Muddel sagte er:
    – Genossin, ich habe den Auftrag, Ihnen das Blumenpapier abzunehmen.
    Muddel gab ihm das Blumenpapier, ohne die Anrede zu korrigieren.
    In der Diele leuchtete die große Muschel, ganz so, wie er es in Erinnerung hatte, nur dass ihm der Raum noch dunkler erschien als beim letzten Mal. Einige Sekunden standen sie verloren herum, dann tauchte, dicht vor ihnen, die Urgroßmutter auf wie ein Geist. Sie schaute sie fragend an, und schon befürchtete Markus, von ihr nicht erkannt zu werden, als sie sagte:
    – Wunderbar, dass ihr kommt. Ich bin ja so glücklich!
    Eine Frau huschte vorbei und nahm Muddel den Mantel ab.
    – Wenn am Hintereingang kein Platz mehr ist, bringst du den Mantel in den Keller, rief die Urgroßmutter der Frau mit durchdringender Stimme hinterher. Dann wandte sie sich wieder ihnen zu.
    – Grauenhaft, sagte sie.
    Markus hatte keine Ahnung, was sie meinte.
    – Ich bin am Ende, sagte die Urgroßmutter, ich bin wirklich am Ende.
    Sie schlug die Hände vors Gesicht, verharrte einige Augenblicke in dieser Haltung, bis es Markus unbehaglich zu werden begann. Plötzlich sagte sie:
    – Kein Wort! Ist das klar?
    Ihre Stimme klang wieder durchdringend und scharf.
    – Kein Wort über Ungarn! Kein Wort über irgendwas! Das muss hundertprozentig klappen! Ist das klar?
    – Alles klar, sagte Muddel.
    Die Urgroßmutter beugte sich vor, flüsterte jetzt beinahe:
    – Er verträgt das nicht mehr.
    – In Ordnung, sagte Muddel.
    – Wunderbar, flötete die Urgroßmutter und strich Markus übers Haar. Du bist aber groß geworden!
    – Er ist jetzt zwölf, sagte Muddel.
    Die Urgroßmutter nickte.
    – Melitta, nicht wahr, du bist Melitta?
    – Ja, sagte Muddel. Genau.
    Noch einmal strich die Urgroßmutter Markus übers Haar, schaute ihn lächelnd an, um dann, wiederum abrupt, fast ein bisschen irrsinnig, die Tonart zu wechseln:
    – Vamos, sagte sie. Hundertprozentig! Ich verlasse mich auf euch.
     
    Gleich beim Betreten des Raums musste er wieder an das Naturkundemuseum denken, so ausstellungshaft war alles, so irgendwie prähistorisch, und es roch auch so: staubig und streng und nach großem Ernst; ringsum standen, wie eh und je, schwarze, verglaste Regale, und schräg durch die große Schiebetür, welche die beiden Räume zu einer regelrechten Halle verband, sah man den Wintergarten, in dem, wie ihm jetzt einfiel, der Hauptteil der Schätze lagerte.
    In der Mitte des Raums war eine aus verschiedenen (und verschieden hohen) Tischen zusammengestückelte Tafel aufgebaut, daran saßen schon eine Menge Leute. Sein Vater war nicht dabei. Auch Oma Irina konnte er auf den ersten Blick nicht finden; es waren zumeist alte, uralte Leute, die hier am Tisch saßen und diskutierten, eine Saurierversammlung mit Kaffee und Kuchen, dachte Markus, aber so aufgeregt durcheinanderkrächzend, als hätte man sie gerade alle aus ihrer prähistorischen Starre erweckt, damit sie alles, was sie in Millionen Jahren zu sagen versäumt hatten, heute nachholten.
    Nur einer hockte abseits der großen Tafel, ganz links in der Ecke, im Schatten des durch die Terrassentür einfallenden Lichts: ein Saurier, der die Wiederauferstehung nicht ganz geschafft hatte – tatsächlich erinnerte die ineinandergeschobene Knochengestalt mit ihren bis zu den Ohren aufragenden Knien, den über die Seitenlehnen hängenden Flügelarmen und der riesigen langen Schnabelnase an den fossilen Abdruck jenes ausgestorbenen Reptils, das Markus immer am meisten fasziniert hatte: Pterodactylus, Flugsaurier.
    – Markus, sagte die Urgroßmutter zu dem Pterodactylus. Dein Urenkel.
    – Gratuliere zum Geburtstag, murmelte Markus und hielt seinem Urgroßvater das Bild hin.
    Der Pterodactylus hielt den Kopf schief, die Schnabelnase kreiste.
    – Er hört nix mehr, flüsterte die Urgroßmutter.
    – Ein Leguan, krächzte der Pterodactylus.
    – Eine Wasserschildkröte, sagte Markus laut – auf eine weitere Präzisierung (dass es sich nämlich um das Abbild einer echten Karettschildkröte handelte) verzichtete er.
    – Er sieht auch nix mehr, flüsterte die Urgroßmutter.
    – Markus interessiert sich für Tiere,

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