Ruge Eugen
selbst gefertigt aus Lappen und Stroh und von den anderen Kindern wegen ihrer Kopierstiftaugen verspottet – sie hieß Katja, und noch heute kamen Irina beim Gedanken an diese Puppe die Tränen. Und Charlottes Tischdecken warf sie sowieso – nach einer gewissen Anstandsfrist – auf den Müll.
Jedoch, was Charlotte dieses Mal aus ihrem Dederon-Beutel zog, war keine Tischdecke. Auch kein Kalender. Sondern: DAS BUCH. Seit einem halben Jahr redete Charlotte von nichts anderem als von ihrem Buch , welches übrigens gar nicht ihr Buch war, denn sie hatte lediglich ein Geleitwort geschrieben, tat aber so, als sei dieses Geleitwort das Wichtigste an dem Buch, als könnte das Buch ohne ihr Geleitwort kein Mensch lesen! Kurz, dieses Geleitwort war jetzt endlich erschienen, samt Buch, und Charlotte schenkte jedem ein – natürlich signiertes! – Exemplar. Alexander bekam eins, die Neue bekam eins (es wurde noch nachsigniert, weil Charlotte, wie sich herausstellte, den Namen nicht wusste), und Kurt und Irina bekamen zusammen eins. – Nur dass Charlotte ihnen vor einer Woche schon eins geschenkt hatte.
Irina sah Kurt an. Kurt schaute zurück – halunkisch.
Und dann, endlich, nachdem Charlotte ihren Dederon-Beutel mit Gegengeschenken gefüllt, nachdem Wilhelm seinen Hut und Charlotte ihre Handtasche gefunden, nachdem Charlotte noch einmal beteuert hatte, wie entzückend alles gewesen sei, nachdem man die beiden bis zum Treppenabsatz begleitet und ihnen hinterhergewunken und ihnen noch rasch den vergessenen Regenschirm nachgetragen hatte – dann endlich schloss sich die Tür, und Irina, ob sie wollte oder nicht, verfiel in ein lautloses, hysterisches, aber doch befreiendes Lachen. Konnte auch nicht aufhören zu lachen, als Kurt sie tröstend in den Arm nahm, musste sich losmachen, weil ihr Körper sich vor Lachen krümmte. Hörte dann doch auf zu lachen, als es plötzlich verbrannt roch und Sascha im Wohnzimmer fluchte. Sah, wie Sascha beim Ausklopfen des Weihnachtsgestecks eine Tasse zerschlug – und fing wieder an zu lachen, als Sascha ihr einen angekokelten Plüschhasen vor die Nase hielt: Hast du nicht mal ausgepackt, Mama. Sie lachte Tränen, und es dauerte lange, bis sie sich beruhigt hatte.
– So, jetzt brauche ich einen Kognak.
Kurt öffnete das Fenster, der Rauch verzog sich. Alle waren erhitzt, hatten rote Köpfe. Man ließ sich in der Sitzecke nieder, machte es sich bequem. Noch immer wurde Irina von nachbebenartigen Lachkrämpfen geschüttelt.
– Na, das war ja wieder was, sagte Sascha.
– Die werden alt, sagte Kurt.
Er stand noch einmal auf, holte den Kognak aus seinem großen Alkoholfach in der schwedischen Wand, goss Irina ein, goss sich selbst ein. Auch Sascha wollte nun einen Kognak.
– Na, komm schon, Melitta. Trink einen Kognak mit uns, sagte Irina.
Aber Melitta wollte keinen Kognak. Sondern lieber Wasser. Und jetzt, da sie gerade angefangen hatte, die Neue ein bisschen ins Herz zu schließen, war Irina beleidigt. Was war das für ein Benehmen! Oder war sie auch noch Antialkoholikerin? Vegetarierin und Antialkoholikerin!
– Gut, dann trinken wir eben allein, sagte Irina.
Die beiden jungen Leute warfen einander einen Blick zu – und da kapierte Irina plötzlich.
Da kapierte sie, dass diese Frau, diese unscheinbare Frau mit den kurzen Beinen und den stechenden Augen, mit ihren nicht sonderlich gepflegten Fingernägeln und ihrer Unfrisur – dass diese Frau im Begriff war, sie, Irina Petrowna, wahres Alter: noch keine fünfzig, zur Oma zu machen.
– Das darf doch nicht wahr sein, sagte Irina.
– Mutter, sagte Sascha, du tust ja gerade so, als sei das ein Unglück.
– Was ist denn passiert, fragte Kurt.
1. OKTOBER 1989
Es gefiel ihm nicht: Muddel vor dem Badezimmerspiegel, Augenbrauen zupfend. Er beobachtete schon seit einer Weile, wie sie sich aufmotzte, normalerweise lief sie den ganzen Tag im karierten Hemd rum (am liebsten von Jürgen – solange es Jürgen noch gegeben hatte), und jetzt: Stöckelschuhe auf einmal, er hatte gar nicht gewusst, dass sie so was hatte, Stöckelschuhe, die Beinhaare hatte sie sich auch schon weggemacht mit diesem Wachszeug (Quäldinge), jetzt rupfte sie sich die Augenbrauen aus, weit vorgebeugt über das Waschbecken, man sah, wie sich unter dem Rock der Schlüpfer abzeichnete, grausam, man sah wirklich alles , so wollte sie da also hingehen, zu dem Geburtstag, bei dem, wie er wusste – und sie natürlich auch –, sein Vater sein würde. Nur, es
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