Ruge Eugen
benutzte Geschirr.
Vielleicht war Sascha ja wirklich anders?
Allmählich, dachte Irina, während sie den Stollen mit zerlassener Butter übergoss und mit Puderzucker bestäubte, allmählich wurde es anstrengend, Kurts Wünschen zu entsprechen. Ständig seine prüfenden Blicke zu ertragen. Ständig dem Vergleich mit jüngeren Frauen ausgesetzt zu sein: Ja, sie wurde älter, verdammt, sie ging auf die fünfzig zu – und offiziell war sie sogar schon darüber hinaus. Um zwei Jahre hatte sie die Behörden damals betrogen. Hatte die Sieben in ihrem Geburtsjahr in eine Fünf umgefälscht, um in den Krieg zu dürfen. Und auch wenn sie stets ihren wahren Geburtstag feierte und bei allen Freunden stets ihr wahres Alter angab – ihr «Ausweisalter» begleitete sie ständig wie eine fortwährende Drohung, die sich, und das war das Verheerende, immer – und immer schneller! – erfüllte. Kaum stand ihr Ausweisalter im Raum, war ihr wahres Alter auch schon nachgerückt, es war eine Zeitvernichtungsmaschine, dachte Irina, es war, als müsste sie schneller altern als andere: Für die Heimat, für Stalin! Hurra!
Beim Kaffeetrinken gab es noch eine Überraschung, nämlich dass die Neue Psychologie studierte. Nicht Geschichte wie Sascha.
– So etwas gibt es bei uns, staunte Charlotte.
– Tsychologie, sagte Wilhelm, das ist doch ist eine Tseudowissenschaft.
– Afterwissenschaft, verbesserte Kurt. Dem Genossen Stalin zufolge ist es eine Afterwissenschaft.
– Was ist denn eine Afterwissenschaft, fragte die Neue.
– Na, die Wissenschaft vom After, sagte Sascha.
– Also ich finde das sehr interessant, flötete Charlotte. Nein, im Ernst, Kinder, sehr interessant. Ich bin überzeugt, es gibt einen Zusammenhang zwischen Körper und, wie sagt man jetzt …
– Psyche, sagte die Neue.
Ihr Blick blieb, obwohl sie lächelte, stechend.
Dann stand Kurt auf und sagte:
– So, Kinder, jetzt werde ich mal eine Weihnachtsmusik auflegen.
Das war das Zeichen. Die Geschenke waren bereits an den Sitzplatz des jeweiligen Adressaten gestellt worden, nur Charlotte behielt ihre Gaben immer im Dederon-Beutel und übergab sie direkt – ein Regelverstoß, über den Irina sich jedes Mal ärgerte. Nun begannen alle mit ihrem Geschenkpapier zu rascheln, knoteten umständlich Bänder auf, falteten auseinander, strichen glatt – und Irina kam der Gedanke, ob die Neue anhand des Geschenkpapiers, das sie verwendet hatte, auf ihre «Psyche» zu schließen versuchte. Wer weiß? Psychologie – wie war das für Sascha? Fühlte man sich nicht ständig beobachtet, irgendwie?
Wilhelm, als Einziger, saß unbewegt da, ohne sich um seine Geschenke zu kümmern. Nadjeshda Iwanowna sprang auf und holte rasch noch die Socken, die sie für Sascha und Kurt gestrickt hatte. Charlotte war entzückt über das Reisenecessaire, das sie sich gewünscht hatte – wozu eigentlich? Die Neue prüfte ihr Parfüm, als wäre es eine Bombe (das nächste Mal – wenn es ein nächstes Mal gab – bekam sie eine Baumwollstrumpfhose); Kurt hatte eine Tabakspfeife bekommen und freute sich demonstrativ (das heißt, er verfiel kurz in das Gebaren eines Sechsjährigen, steckte die Pfeife in den Mund, zog sich die Socken über die Hände und erdichtete, über die Weihnachtsmusik hinweg, einen Gesang, in welchem sich «Pfeifen» auf «tut mich die Kälte nicht kneifen» reimte); Alexander probierte seinen Rasierapparat aus (sein eigentliches Geschenk, den mongolischen Lammfellmantel, hatte Irina ihm schon vorher geschickt, damit es jetzt nicht so unausgewogen aussah); und Nadjeshda Iwanowna, die ein geblümtes Wolltuch und – da sie in der Nacht fror, weil sie es gewohnt war, auf dem Ofen zu schlafen – ein Heizkissen bekam, fragte zehn Mal, ob das nicht alles zu teuer sei, bis Irina sie leise anfauchte.
Auch Irina hatte ihr Geschenk schon bekommen. Kurt hatte ihr ein Kleid und ein Paar passende Schuhe geschenkt, natürlich nicht wirklich, sondern in Form eines Kuverts mit Geld – Kurt war ja kaum in der Lage, eine Packung Knäckebrot allein zu kaufen, geschweige denn Damenkleidung –, aber Irina war es zufrieden. Mehr erwartete sie nicht. Von Sascha, der gerade mal zweihundert Mark Stipendium bekam (und eigentlich von Kurts – und von ihren – Zuschüssen lebte), wollte sie nichts und hatte ihm sogar verboten, ihr etwas zu schenken; ihre Mutter hatte ihr noch nie irgendetwas zu Weihnachten geschenkt; einzig von Oma Marfa hatte sie einmal eine Puppe bekommen,
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