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Ruge Eugen

Ruge Eugen

Titel: Ruge Eugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: In Zeiten des abnehmenden Lichts
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erkannte man ihn), daneben, in einem Beiwagen, ein Mann im Anzug: Karl Liebknecht vielleicht. Doch das Foto war schlecht, und einen Bart hatten damals wohl alle.
    Ein Foto von einem Schiff: War es das, auf dem seine Urgroßeltern aus Mexiko zurückgekommen, oder das, mit dem sie hingefahren waren? Wie waren sie eigentlich damals aus Deutschland entkommen?
    Außerdem das Foto einer jungen, schönen Frau mit schwarzen, glänzenden Augen, und nur an der Art und Weise, wie sie noch heute die Haare trug, erkannte man, dass es sich um dieselbe Person handelte, die jetzt hereinflatterte und zischend ihre Gäste ermahnte.
    – Bitte, Kinder, ich bitte euch!
    Und schon klingelte es wieder. Die Urgroßmutter verschwand im Flur, das Palaver der Saurier, das nach der Ermahnung für einen Moment abgeschwollen war, nahm wieder an Lautstärke zu, man redete, trotz Verbots, über die politische Lage und über Ungarn und das ganze Zeug, und Markus registrierte erstaunt, dass die Saurier dieselbe Meinung vertraten wie Pfarrer Klaus in Großkrienitz:
    – Mähr Demogradie, schrie der dicke Mann mit dem roten Gesicht, selbstvorständlisch prauchen wir mähr Demogradie!
    Aber schon ging die Urgroßmutter dazwischen und klatschte in die Hände:
    – Genossen, rief die Urgroßmutter, Genossen, ich bitte um Ruhe!
    Ein Mann im braunen Anzug war eingetreten. Er sah aus wie sein Schuldirektor Brietzke und hielt eine rote Mappe in der Hand, jemand ließ ein Glas klingen, eine Rede anscheinend, jetzt kam der offizielle Teil, dachte Markus. Wo blieb eigentlich sein Vater?
    – Liebe Genossen, lieber, verehrter Genosse Powileit, begann der Schuldirektor, und sein Tonfall war schon bei diesen ersten Worten so ermüdend, so typisch Rede, dass Markus überlegte, ob er, die letzte Unruhe nutzend, noch rasch versuchen sollte, in den Wintergarten zu entkommen, aber zu spät, ihm blieb nichts übrig, als abzuwarten. Er stand jetzt am Fenster, vor Wilhelms Schreibtisch – auch museumsreif, samt den altertümlichen Utensilien, die darauf lagen: Brieföffner (gleich mehrere), Holzstifte (rot), eine große Lupe –, und erinnerte sich, während der Schuldirektor Wilhelms Lebenslauf ausbreitete, dass auch Wilhelm damals, als er in seiner Klasse gewesen war, vom «Kap-Putsch» erzählt hatte und dass er dabei verwundet worden war, und obwohl er gar nicht wusste, wie es dort aussah, hatte Markus seinen Urgroßvater schon damals am Kap Hoorn gesehen, mit Sombrero und gezücktem Trommelrevolver zum Angriff reitend und – peng! – vom Pferd fallend. So war es garantiert nicht gewesen, dachte Markus, vielleicht hieß einfach ihr Anführer «Kap»? Vielleicht war das der Mann im Beiwagen? Fuhren sie gerade zum Putsch? Oder war das Foto aus der Nazizeit, als Wilhelm, wie der Schuldirektor jetzt berichtete, illegal tätig gewesen war, und Wilhelm hatte sich als SA-Mann verkleidet? Später, sagte der Schuldirektor, musste Wilhelm aus Deutschland fliehen – nur wie er geflohen war, das verriet der Schuldirektor nicht, und Markus fragte sich abermals, ob es denn keine Grenze gegeben hatte in Deutschland? Wurde sie nicht bewacht? Und wo war eigentlich während der ganzen Zeit Urgroßmutter Charlotte?
    – … dir, lieber Genosse Powileit, den Vaterländischen Verdienstorden in Gold zu verleihen, hörte Markus den Schuldirektor sagen. Das hörte sich bombastisch an, Vaterländischer Verdienstorden, ein bisschen nach Kaiser und Krieg, und auch noch in Gold, alle klatschten jetzt, der Schuldirektor ging auf Wilhelm zu, den Vaterländischen Verdienstorden in der Hand, aber Wilhelm stand nicht mal auf, sondern hob nur die Hand und sagte:
    – Ich hab genug Blech im Karton.
    Alle lachten, nur die Urgroßmutter schüttelte den Kopf, dann steckte der Schuldirektor Wilhelm den Orden an, und alle klatschten wieder und standen auf und wussten auf einmal nicht, wie sie aufhören sollten zu klatschen, und klatschten immer noch, als die Urgroßmutter endlich mit schriller Stimme dazwischenrief:
    Das Buffet ist eröffnet!
    Das Buffet stand im Nebenzimmer. Markus angelte sich rasch ein Würstchen und marschierte in Richtung Wintergarten. Schon hatte er den typischen Geruch in der Nase, schon spürte er an den Fingerspitzen die schmirgelige Rauheit des Katzenhais, dessen Haut, wie die Haut aller Haifische, aus winzigen, sich ständig regenerierenden Zähnen bestand, er hatte sogar schon, vorsorglich, darauf zu achten begonnen, das Würstchen in der einen, der rechten Hand zu

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