Ruge Eugen
ein schmaler, ausgetretener Pfad im Schnee begehbar war. Sascha voran. Er trug eine abgewetzte, viel zu dünne Militärjacke: Parka, sagte man wohl.
– Wo ist eigentlich dein Lammfellmantel, fragte Kurt.
– Ist noch bei Melitta.
– Noch bei Melitta, murmelte Kurt.
– Wie bitte, fragte Sascha.
– Nichts, sagte Kurt.
Endlich traten sie auf die Schönhauser hinaus. Jetzt gingen sie nebeneinander.
– Deine Mutter macht sich Sorgen, begann Kurt.
Sascha zuckte mit den Schultern:
– Mir geht es gut.
– Das freut mich, sagte Kurt. Dann kannst du mich ja mal darüber aufklären, was eigentlich los ist.
– Was soll los sein. Ich bin da, ich existiere. Das Leben ist wunderbar.
– Melitta sagt, du willst dich scheiden lassen.
– Ihr wart bei Melitta?
– Melitta war bei uns.
– Wie schön, sagte Sascha.
– Darf Melitta uns nicht mehr besuchen?
– Aber bitte! Ich freue mich, wenn ihr euch plötzlich so gut versteht.
– Melitta ist die Mutter unseres Enkels, sagte Kurt. Und das haben nicht wir uns ausgesucht. Das war deine Entscheidung. Du wolltest heiraten. Du wolltest ein Kind. Wir haben dir damals abgeraten …
– Richtig, sagte Sascha, ihr habt uns geraten, das Kind zu töten.
– Wir haben dir abgeraten, Hals über Kopf zu heiraten, eine Frau, die du kaum kennst. Wir haben dir abgeraten, ein Kind in die Welt zu setzen mit zweiundzwanzig …
– Okay, sagte Sascha, du hattest recht, wenn du das hören willst. Gratuliere, du hattest recht. Bist du jetzt zufrieden?
An der Ecke Gleimstraße war die Gaststätte Vineta. An der Tür hing ein handgemaltes Schild: «Wegen technischer Probleme geschlossen».
Auch das Restaurant auf der anderen Straßenseite war geschlossen: «Montag Ruhetag».
Sie gingen weiter Richtung Stadtzentrum. Der Verkehr kam in Wellen. Kurt wartete eine Pause ab, um nicht schreien zu müssen. Dann versuchte er es noch einmal:
– Es geht nicht darum, wer recht hat oder hatte. Ich mache dir keine Vorhaltungen. Aber du hast nun einmal geheiratet, du hast einen Sohn in die Welt gesetzt, und nun hast du eine gewisse Verantwortung. Du kannst nicht gleich alles hinschmeißen und wegrennen, weil es mal ein Problem gibt. Das ist nun mal so in einer Ehe, dass es auch mal Probleme gibt.
– Es geht nicht um Eheprobleme, sagte Sascha.
– Aha, sagte Kurt. Worum geht es dann?
Sascha schwieg.
– Entschuldige, aber ich finde, wir, als deine Eltern, haben eine gewisses Recht, zu erfahren, was los ist. Du verschwindest einfach für Wochen, du meldest dich nicht … Kannst du dir wirklich nicht vorstellen, was bei uns zu Hause los ist? Baba Nadja weint den ganzen Tag. Deine Mutter ist vollkommen erledigt. Ich weiß nicht, um wie viele Jahre sie in diesen letzten Wochen gealtert ist
– Bitte mach mich jetzt nicht noch verantwortlich für das Alter meiner Mutter, sagte Sascha.
Kurt wollte etwas einwenden, aber Sascha ließ ihn nicht zu Wort kommen, wurde plötzlich laut:
– Ich kann mein Leben nicht nach dem Seelenfrieden meiner Mutter ausrichten, so leid es mir tut. Ich habe ein Recht auf mein eigenes Leben, ich habe ein Recht auf Eheprobleme, ich habe ein Recht auf Schmerzen …
– Ich denke, du hast keine Eheprobleme?
Sascha schwieg.
– Gibt es eine andere Frau?
– Ich denke, Melitta hat euch alles erzählt.
– Melitta hat uns gar nichts erzählt.
– Nein, es gibt keine andere Frau, sagte Sascha.
– Was dann?
Sascha lachte.
– Vielleicht hat Melitta ja einen anderen Mann? Das ist ja auch eine Möglichkeit! – Hier gibt es Broiler.
Sie standen vor der Goldbroilergaststätte Ecke Milastraße. Kurt hatte weder Lust auf Broiler, noch hatte er Lust auf Neonlicht und Tische aus Sprelacart, aber vor allem hatte er keine Lust, in der Kälte anzustehen: Die Schlange ging bis vor die Tür.
– Was ist denn noch in der Nähe?
– Da drüben ist das Wiener Café, sagte Sascha.
– Gibt es da was zu essen?
– Torte.
– Hier muss es doch irgendwo was zu essen geben, sagte Kurt.
– Balkan-Grill, sagte Sascha und zeigte in Richtung Alex.
Sie gingen weiter.
Der Wind blies heftig. Eine U-Bahn rasselte vorbei – hier fuhr die U-Bahn oben, als Hochbahn, während die S-Bahn unter der Straße kreuzte: Verkehrte Welt, dachte Kurt.
Er versuchte, den Gedanken, dass Melitta Sascha betrog, in seinen eigenen Vorstellungen einzuordnen. Dass Sascha Melitta betrog, hätte ihn kaum überrascht. Aber umgekehrt? Das war erstaunlich, und wenn er ehrlich war, empfand Kurt ein
Weitere Kostenlose Bücher