Ruge Eugen
inzwischen gekommen war, aber statt seines Vaters sah er inmitten all dieser überschnappenden Fröhlichkeit, zwischen den gackernden, zähnebleckenden und betrunkenen Gesichtern ein ernstes, ein abwesendes, ein von alldem vollkommen unberührtes Gesicht, ganz schmal und ganz schief und von kleinen, entzündeten Schmerzstellen unter den Augenbrauen gezeichnet.
Im selben Augenblick klirrte irgendetwas im Nebenzimmer, jemand schrie auf – und Markus hatte Mühe, sich gegen die plötzlich durch die Schiebetür strömenden Menschen vorzuarbeiten zu seiner Mutter.
– Was ist denn passiert, fragte er.
– Wir gehen, sagte Muddel.
– Warum denn jetzt schon?
– Das erklär ich dir draußen, sagte Melitta.
Sie gingen, ohne sich von den Urgroßeltern zu verabschieden.
Den Leguan nahm er mit.
In der Nacht träumte er wieder von abgeschnittenen Fischköpfen.
1979
Selbst der Schnee, mit dessen Räumung die Leute seit Tagen schon wieder nicht hinterherkamen, konnte die Gegend nicht ansehnlicher machen. Die hohen Mietshäuser links und rechts sahen erbärmlich aus. Die Stuckfassaden waren vom Rauch der Kohleöfen geschwärzt, wo nicht nacktes Mauerwerk bleckte. Die Balkone sahen aus, als könnten sie einem jeden Moment auf den Kopf fallen.
Ruinen schaffen ohne Waffen, der Witz fiel ihm ein: die Losung der Kommunalen Wohnungsverwaltung.
Drüben, im Wedding, waren schicke Neubauten zu sehen. Was dachten die Westberliner, wenn sie über die Mauer hinweg in dieses Elend schauten?
Haus Nummer 16 schien unbewohnt zu sein. Falsche Adresse? Die Tür stand offen. Kurt passierte einen ruinösen Hausflur. An der Decke die Reste von Blumenreliefs. Dornröschenschlaf.
Uralte Schilder: Hausieren verboten. Ball spielen verboten. Fahrräder abstellen verboten.
Seitenflügel rechts. Abgerissene, aufgebrochene Briefkästen. Die Tür stand sperrangelweit offen, ließ sich nicht schließen, weil eine dicke Eisschicht auf dem Fußboden die Schwelle blockierte: Rohrbruch, dachte Kurt, das Wort dieses Winters. Überall waren nach dem großen Temperatursturz zum Jahreswechsel die Rohre gebrochen.
Kurt balancierte über den vereisten Boden, stieg zwei Treppen hinauf, klopfte an der Tür rechts. Hoffte, dass niemand öffnete. Dann konnte er sagen, er habe es versucht. Nur, was hatte er davon? Irina würde die Polizei anrufen oder, noch schlimmer, selber hierherkommen – Gott bewahre. Wenn Irina das sah, war es aus.
Geräusche. Schritte. Die Tür öffnete sich, Sascha erschien. Er trug einen grässlichen, auffällig geflickten blauen Pullover. Seine Haare waren kurz geschoren wie bei einem Sträfling. Er war mager geworden, sein Gesicht hatte einen merkwürdig wächsernen Glanz, und sein Blick war – irgendwie irr.
– Komm rein, sagte Sascha und machte eine Geste, als würde er ihn in einen Palast bitten.
Kurt betrat eine leere Wohnung. Er nahm kaum Einzelheiten wahr – es gab kaum Einzelheiten. Ein brutal kahler Flur. Eine Küche ohne ein einziges Möbel, alle Küchenutensilien standen auf einer alten Kochmaschine herum. Das Zimmer: blanke Dielen von roter Fußbodenfarbe. Eine nackte Birne an der Decke. Ein Schrank. Eine Matratze. Eine blau angestrichene Schulbank, auf der eine Schreibmaschine stand.
Sascha wies auf den einzigen Stuhl im Zimmer.
– Setz dich, sagte er. Willst du ’n Tee?
Kurt blieb stehen, schaute sich um.
Ein voller Aschenbecher stand auf dem Fensterbrett. Auf dem Fußboden lagen Bücher.
– Ich bin noch nicht vollständig eingerichtet, sagte Sascha.
– Aha, sagte Kurt.
Er schaute an den Eisblumen vorbei auf die Pappel im Hinterhof, die ihre schwarzen Äste dem Himmel entgegenstreckte.
– Hast du hier eine Zuweisung oder so was?
Sascha lachte, schüttelte den Kopf.
– Und wie kommst du hier rein? Woher hast du den Schlüssel?
– Ich hab ein neues Schloss eingesetzt.
– Du willst sagen, du bist hier eingebrochen.
– Vater, die Bude steht leer. Da kümmert sich kein Mensch drum.
Kurt betrachtete den großen braunen Kachelofen. Hinter der spaltbreit geöffneten gusseisernen Tür loderte ein Flämmchen. Neben dem Ofen stand ein Pappkarton mit Kohlen. Vorschriftswidrig, dachte Kurt. Laut sagte er:
– Na schön, gehen wir essen.
Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Hälfte der alten, von vor dem Krieg stammenden Laternen funktionierte noch. Ein Müllcontainer qualmte.
– Schön hier, sagte Kurt.
– Ja, sagte Sascha, die beste Gegend Berlins.
Sie gingen hintereinander, weil nur
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