Ruhe unsanft
merklich, aber mit umwölkter Stirn den Kopf.
Giles und Gwenda stürzten sich jeden Tag ungeduldig auf die Post, wurden aber zunächst enttäuscht. Alles, was kam, waren zwei Briefe von Privatdetektiven, die ihnen ihre »geschulten und erfolgreichen« Dienste anboten.
»Das wäre der allerletzte Notnagel«, sagte Giles. »Und falls wir uns an ein Auskunftsbüro wenden, dann nur an ein seriöses, das nicht per Post auf Kundenfang geht. Übrigens würde auch ein seriöser Detektiv kaum anders vorgehen als wir.«
Sein Optimismus – oder sein Selbstbewusstsein – wu r de an einem der nächsten Tage bestätigt. Ein Brief traf ein, dessen charaktervolle, schwer leserliche Handschrift auf einen Arzt hindeutete.
Galls Hill, Woodleigh Bolton
Sehr geehrter Inserent,
ich habe Ihre Suchanzeige in der Times gelesen. Helen Spenlove Kennedy ist meine Schwester. Da ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr mit ihr habe, würde auch ich mich freuen, etwas über sie zu erfahren. Bitte, verständigen Sie mich, falls Sie von anderer Seite Hinweise bekommen.
Hochachtungsvoll
Dr. James Kennedy
»Woodleigh Bolton.« Giles zog seine Autokarte zurate. »Das ist gar nicht so weit weg! Woodleigh Camp ist ein Ausflugsziel ungefähr dreißig Meilen von hier im Hoc h moor. Am besten fragen wir gleich bei Dr. Kennedy an, ob wir ihn besuchen dürfen oder ob er herkommen will.«
Die Antwort lautete, Dr. Kennedy sei bereit, sie am nächsten Mittwoch zu empfangen, und so fuhren sie zur verabredeten Zeit die Hügelstraße hinauf. Woodleigh Bolton war ein Dorf, dessen Häuser weit auseinander an den Hang gebaut waren, und »Galls Hill« stand allein auf der Kuppe, mit freiem Ausblick über Woodleigh Camp und die Moorheide bis zum Meer.
»Ziemlich öde«, meinte Gwenda fröstelnd.
Auch das Haus selbst wirkte öde. Dr. Kennedy hielt o f fenbar nichts von modernen Neuerungen wie Zentralhe i zung. Giles und Gwenda wurden von einer dunklen, a b weisend aussehenden Dame eingelassen und durch eine kahle Halle in ein Arbeitszimmer geführt, wo Dr. Kenn e dy sich zu ihrer Begrüßung vom Schreibtisch erhob. Die Wände des hohen Zimmers waren von wohl gefüllten Bücherregalen gesäumt.
Dr. Kennedy, ein älterer Mann mit grauem Haar und kühl wirkenden Augen unter buschigen Brauen, ließ den Blick kritisch von einem zum anderen gleiten.
»Mr und Mrs Reed? Setzen Sie sich in diesen Sessel, Mrs Reed, es ist wahrscheinlich der bequemste. Nun e r klären Sie mir bitte: Warum suchen Sie meine Schwe s ter?«
Giles trug geläufig die Geschichte vor, wie sie ihm fürs erste Sondieren zweckdienlich schien.
Er und seine Frau hatten also vor ein paar Monaten in Neuseeland geheiratet, wollten sich aber nun in England niederlassen. Seine Frau habe als Kind schon einmal ku r ze Zeit in Dillmouth gewohnt, und deshalb liege ihr da r an, alte Verwandtschafts- und Freundschaftsbindungen wieder aufzuspüren.
Dr. Kennedy lauschte höflich, aber steif. Offensichtlich fühlte er sich von der sentimentalen Neigung aller Kol o nialbriten zu ihren teuren Familien in der Heimat leicht angewidert.
»Und Sie glauben«, wandte er sich, von vornherein e t was ablehnend, an Gwenda, »meine Schwester – genauer gesagt, meine Halbschwester – habe zu diesem alten Kreis gehört?«
»Sie war meine Stiefmutter«, erwiderte Gwenda. »Die zweite Frau meines Vaters. Ich kann mich natürlich nicht mehr genau an sie erinnern; ich war noch zu klein, höch s tens drei Jahre. Mein Mädchenname ist Halliday.«
Dr. Kennedy starrte sie an – und plötzlich verklärte sich sein Gesicht zu einem Lächeln, das einen ganz anderen Menschen aus ihm machte. Jegliche Reserve schwand. »Lieber Gott«, sagte er, »nun erzählen Sie mir bloß nicht, dass Sie Gwennie sind!«
Gwenda nickte eifrig. Der lang vergessene Kosename klang lieb und vertraut in ihren Ohren.
»Ja – ich bin Gwennie!«
»Ich traue meinen Augen nicht – erwachsen, verheir a tet! Wie die Zeit vergeht! Es muss – Moment – fünfzehn Jahre her sein… Nein, viel länger. Sie haben mich auch nicht wiedererkannt, nicht wahr?«
»Nein. Ich erinnere mich nicht einmal an meinen Vater. Ich meine, alles ist nur noch verschwommen da.«
»Natürlich! Ja, Halliday hat mir mal erzählt, dass seine erste Frau aus Neuseeland stammte. Neuseeland ist wohl sehr schön?«
»Das schönste Land der Welt! Aber hier in England g e fällt es mir auch sehr gut.«
»Sind Sie nur besuchsweise hier? Moment.« Er klingelte.
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