Ruhe unsanft
den Angehörigen seines Opfers jeden Verdacht zerstreuen will. Die alte Crippen-Methode! Die Briefe im Ausland absenden zu lassen, ist das geringste Problem.«
»Du glaubst, dass mein Vater…«
»Nein, eben nicht! Nehmen wir mal an, ein Mann plant, seine Frau loszuwerden, verbreitet zunächst Gerüchte über ihre Untreue, inszeniert ihre angebliche Flucht – Abschiedsbrief, fehlendes Gepäck – und lässt in wohl überlegten Abständen noch zwei Briefe aus dem Ausland folgen. In Wirklichkeit hat er sie heimlich umgebracht und irgendwo verscharrt, sagen wir unten im Keller. Das ist ein Mordschema, das mit am häufigsten vorkommt. Aber dieser Typ von Mörder läuft anschließend nicht zu seinem Schwager, um sich selbst zu bezichtigen und nach der Polizei zu rufen. Wenn anderseits dein Vater ein sehr gefühlsbetonter Mann und in seine Frau wahnsinnig ve r liebt war und sie wie einst Othello in einem Anfall von Eifersucht erwürgte – dazu würden die von dir gehörten Sätze passen –, packt er keine Koffer und fabriziert Bri e fe, ehe er davonstürzt, um jemand von seinem Verbr e chen zu erzählen, der kaum gesonnen ist, ihn in Schutz zu nehmen. Du siehst, Gwenda, wie man’s auch dreht und wendet – die Fakten passen nicht zueinander.«
»Worauf willst du also hinaus, Giles?«
»Ich weiß es nicht, aber mir scheint, da gibt es noch e i ne unbekannte Größe, nennen wir ihn X. Jemand, der in diesem Fall noch nicht aufgetreten ist. Bis jetzt haben wir nur Kostproben seiner Technik erhalten.«
»X?«, wiederholte Gwenda betroffen. Dann verdunkelte sich ihr Blick. »Ach, den erfindest du nur, Giles, um mich zu trösten.«
»Ich denke nicht daran! Du siehst doch selbst, dass wir uns bei dem Versuch, den Fall zu rekonstruieren, dauernd in Widersprüche verwickeln. Wir wissen, dass Helen e r würgt wurde, weil du als Kind gesehen hast…« Er unte r brach sich abrupt. »Himmel, wie dumm von mir! Jetzt begreife ich. Es passt zu allem. Du hast Recht und Dr. Kennedy auch. Hör zu, Gwenda! Helen hatte wirklich alles zur Flucht mit ihrem Liebhaber vorbereitet. Wer das war, wissen wir nicht…«
»X?«
Giles fegte ihren Einwurf mit einer Geste ungeduldig beiseite.
»Sie schreibt ihren Abschiedsbrief – da kommt ihr Mann zufällig herein, liest ihn und dreht durch. Er ze r knüllt ihn, schleudert ihn in den Papierkorb und geht auf sie los. Sie läuft voll Entsetzen in die Halle, er holt sie ein, würgt sie, bis sie schlaff wird, und lässt sie zu Boden si n ken. Dann tritt er ein paar Schritte zurück und zitiert die Worte aus der Herzogin von Amalfi, die das Kind au f schnappt, das von oben durchs Geländer blickt.«
»Und dann?«
»Der Witz ist: Helen war gar nicht tot, sondern nur b e wusstlos. Er jedoch war felsenfest überzeugt, sie ermo r det zu haben, und während er zu Dr. Kennedys Haus am anderen Ende des Ortes lief, kam sie zu sich, oder der Liebhaber erschien und half ihr auf, und sie machten, dass sie wegkamen. Und zwar schleunigst. Das erklärt alles: Kelvin Hallidays Wahn, er habe sie wirklich getötet, das Fehlen ihrer Kleider und der Gepäckstücke, die an dem Tag schon früher aus dem Haus geschafft worden sein können. Und die Briefe aus dem Ausland, die vol l kommen echt sind. Noch Fragen?«
»Es erklärt immer noch nicht«, sagte Gwenda langsam, »warum mein Vater sich so darauf versteifte, sie im Schlafzimmer umgebracht zu haben.«
»Er war eben so durcheinander, dass er sich nicht mehr genau an alles erinnern konnte.«
»Ich möchte dir so gern glauben! Nur zu gern! Aber ich werde das sichere – ganz sichere – Gefühl nicht los, dass ich sie tot in der Halle liegen gesehen habe. Nicht b e wusstlos. Tot!«
»Kann ein Kind von drei Jahren das so genau beurte i len?«
»Vielleicht besser als ein Erwachsener. Der Instinkt ist bei kleinen Kindern noch wie bei Tieren. Hunde zum Beispiel wittern den Tod, setzen sich hin und heulen zum Himmel. Ich glaube, Kinder… wittern den Tod auch…«
»Unsinn. Das ist reine Fantasterei…« Das Läuten der Haustürglocke unterbrach ihn. »Wer mag das sein?«
»Ach, das habe ich ganz vergessen«, sagte Gwenda schuldbewusst. »Es ist Miss Marple. Ich habe sie zum Tee eingeladen. Am besten, wir erzählen ihr nichts von der Sache!«
Gwendas Befürchtungen, der Besuch würde sich unter diesen Umständen etwas schwierig gestalten, erfüllten sich zum Glück nicht. Miss Marple schien nicht zu b e merken, dass ihre Gastgeberin ein wenig zu rasch und zu
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