Ruhe unsanft
Kamins. Ihre A u gen ruhten versonnen auf Gwenda, und plötzlich beugte sie sich vor und flüsterte in vertraulichem Ton:
»Ist es dein armes Kind, meine Liebe?«
Gwenda war leicht zusammengezuckt, fasste sich aber und antwortete unsicher: »Nein – nein, ich glaube nicht.«
»Ach, ich dachte nur.« Die alte Dame nickte vor sich hin und trank in kleinen Schlucken ihre Milch. Dann sa g te sie leichthin: »Zehn Uhr dreißig, das ist seine Zeit. Immer um zehn Uhr dreißig. Höchst bemerkenswert.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Da – hinter dem Kamin ist es. Aber sag niemand, dass ich es dir erzählt habe.«
In diesem Augenblick kam eine weiß bekittelte Pfleg e rin an die Tür und bat Giles und Gwenda, ihr zu folgen.
Der Chefarzt Dr. Penrose erwartete sie in seinem Sprechzimmer und begrüßte sie höflich. Gwenda konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass er selbst etwas seltsam aussah, viel seltsamer jedenfalls als die alte Dame im Aufenthaltsraum, aber vielleicht sahen Nervenärzte immer etwas verrückt aus.
»Auf Ihren und Dr. Kennedys Brief hin«, begann er das Gespräch, »habe ich die Krankengeschichte Ihres Vaters aus dem Archiv geholt, Mrs Reed. Ich erinnere mich noch gut an den Fall, musste aber in ein paar Einzelheiten mein Gedächtnis auffrischen, um Ihnen detaillierte Au s kunft geben zu können. Wenn ich Sie recht verstanden habe, wissen Sie erst seit Kurzem, dass Ihr Vater krank war?«
Gwenda erklärte, dass sie bei den Verwandten ihrer verstorbenen Mutter in Neuseeland aufgewachsen sei und nichts von ihrem Vater gewusst habe, außer dass er schon vor vielen Jahren in einem englischen Sanatorium gesto r ben sei.
»Ganz recht«, sagte Dr. Penrose und nickte. »Allerdings hatte der Fall Ihres Vaters einige ziemlich ausgefallene Züge.«
»Zum Beispiel?«, fragte Giles.
»Nun, seine Zwangsneurose war sehr ausgeprägt. Major Halliday, obwohl in deutlich nervösem Zustand, beharrte außerordentlich fest auf seinem Wahn, er habe seine zweite Frau in einem Eifersuchtsanfall erwürgt. Dieser Behauptung fehlten alle sonst üblichen Zeichen von B e wusstseinstrübung, und ich muss offen gestehen, Mr Reed, dass ich sie damals für bare Münze genommen hätte, wenn Dr. Kennedy uns nicht versichert hätte, seine Halbschwester, Mrs Halliday, sei noch am Leben.«
»Sie hatten also den Eindruck, er habe den Mord wir k lich begangen?«, fragte Giles.
»Damals ja. Später hatte ich allen Grund, meine Me i nung zu revidieren, als ich tiefere Einblicke in Major Ha l lidays Charakter und Veranlagung gewann. Ihr Vater, Mrs Reed, war entschieden nicht der Typ des Paranoikers. Er litt weder an Verfolgungswahn noch an übersteigertem Aggressionstrieb. Er war ein liebenswürdiger, rücksicht s voller und selbstbeherrschter Mensch. Er war weder das, was die Leute im Allgemeinen ›verrückt‹ nennen, noch gefährlich für andere. Er hatte nur diese eine fixe Idee über den Tod seiner Frau, und ich glaube, der Ursprung war weit zurück in der Vergangenheit zu suchen, in einer unverarbeiteten frühkindlichen Erfahrung. Leider haben die von uns angewandten Methoden der Psychoanalyse diese tieferen Schichten nicht erschlossen. Das dauert oft Jahre. Im Falle Ihres Vaters reichte die Zeit nicht aus.«
Er machte eine Pause, sah Gwenda prüfend an und fü g te unvermittelt hinzu: »Sie wissen vermutlich, dass Ihr Vater Selbstmord begangen hat?«
»Oh – nein!«, rief Gwenda.
»Verzeihung, Mrs Reed. Ich dachte, es sei Ihnen b e kannt. Es wäre Ihnen nicht zu verdenken, wenn Sie uns deswegen einige Vorwürfe machten, denn eine schärfere Aufsicht hätte diesen Schritt wahrscheinlich verhindern können. Aber offen gestanden, meine damaligen Vorg e setzten und ich hielten Major Halliday nicht für einen potenziellen Selbstmörder. Er zeigte keinen Hang zu M e lancholie, Grübelei und Verzweiflung. Er klagte nur über Schlaflosigkeit, und der Chefarzt bewilligte ihm die no r male Dosis von Schlaftabletten. Die hat er dann nicht genommen, sondern gespart, bis er…« Dr. Penrose e r setzte den Schluss des Satzes durch eine ausdrucksvolle Geste.
»War er so schrecklich unglücklich?«, fragte Gwenda leise.
»Ich glaube nicht. Es war mehr. Ich würde es als Schuldkomplex bezeichnen, als den brennenden Wunsch, mit dem eigenen Leben zu büßen. Zuerst wollte er da u ernd, dass die Polizei benachrichtigt würde, und obwohl wir ihm das ausredeten und ihm täglich versicherten, er habe überhaupt kein Verbrechen
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