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Ruhe unsanft

Ruhe unsanft

Titel: Ruhe unsanft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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hiesigen Arztes, aber viel jünger als er, aus zweiter Ehe, glaube ich; der arme Mensch hätte ihr Vater sein können, aber er hatte keine Ahnung, wie er sie erziehen sollte. Männer sind so hilflos, nicht wahr? Nun, sie war ziemlich wild, fing eine Liebelei mit einem kleinen Angestellten vom Büro an, einem höchst unzuverlässigen jungen Mann, der vertrauliche Informationen weitergab. Natürlich wurde er fristlos entlassen. Das Mädchen, Helen Kennedy, galt allgemein als sehr hübsch, aber ich konnte das nicht fi n den. Ihr Blond sah unecht aus. Trotzdem verliebte sich mein armer Walter Hals über Kopf, und sie war, wie g e sagt, völlig unpassend, kein Geld, keine Aussichten, und schon gar nicht das, was man sich als Schwiegertochter wünscht. Aber als Mutter ist man ja machtlos. Walter machte ihr einen Heiratsantrag, und sie gab ihm einen Korb, und dann setzte er sich diese törichte Idee in den Kopf, nach Indien zu gehen und Teepflanzer zu werden. Mein Mann sagte: ›Lass ihn gehen‹, obwohl er natürlich schwer enttäuscht war. Er hatte mit Walters baldigem Eintritt in die Firma gerechnet, und Walter hatte auch schon sein Jurastudium beendet – und nun das! Was manche jungen Frauen für Unheil anrichten!«
    »Oh, ich weiß«, sagte Miss Marple. »Mein Neffe…«
    Mrs Fane überging Miss Marples Neffen abermals.
    »So fuhr der liebe Junge also nach Assam – oder war es Bangalore? Und ich schwebte in tausend Ängsten, weil ich wusste, dass er das Klima nicht vertragen würde. Aber er war noch kein Jahr draußen – übrigens bewährte er sich sehr. Alles, was Walter anfängt, macht er gut –, da, Sie werden es nicht glauben, da schreibt ihm diese scha m lose Person, sie hätte sich die Sache überlegt, und wenn er noch wollte, würde sie ihn nun doch heiraten.«
    »Unerhört!« Miss Marple schüttelte den Kopf.
    »Sie bringt eine Aussteuer zusammen, bucht ihre Pass a ge, und… was, meinen Sie, ist ihr nächster Streich?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Miss Marple beugte sich g e spannt vor.
    »Sie bändelt mit einem verheirateten Mann an, bitte schön. Auf dem Schiff, schon bei der Hinfahrt. Er hatte drei Kinder, glaube ich. Walter holt sie ahnungslos am Kai ab, und das erste, was sie sagt, ist, dass sie ihn nun doch nicht heiraten kann. Ist das nicht haarsträubend?«
    »Entsetzlich! Ihr Sohn muss ja beinahe den Glauben an das Gute im Menschen verloren haben!«
    »Zumindest hätte er Helen endlich im wahren Licht s e hen müssen. Aber diese Art von Frauen kann sich ja alles erlauben.«
    »Hat er…« Miss Marple zögerte. »Hat er es ihr denn nicht nachgetragen? Die meisten Männer wären doch schrecklich wütend geworden.«
    »Walter konnte sich immer wunderbar beherrschen. Auch wenn er sich noch so beleidigt fühlt oder anderen Ärger hat, er lässt es sich nie anmerken.«
    Miss Marple sah sie prüfend an, bevor sie wieder einen Fühler ausstreckte.
    »Vielleicht beweist es nur, dass bei ihm alles wirklich tief geht? Manchmal erlebt man bei Kindern doch die erstaunlichsten Dinge. Ein Kind, das man für dickfellig hält, weil es auf Bosheiten nicht reagiert, kann plötzlich einen Wutausbruch haben, den man ihm nie zugetraut hätte. Es sind sensible Naturen, die sich nicht mitteilen können – es sei denn, sie werden bis zum Äußersten g e trieben.«
    »Merkwürdig, dass Sie das sagen, Miss Marple. Ich eri n nere mich noch gut an einen Vorfall aus der Kindheit meiner Söhne. Gerald und Robert, die beiden älteren, waren wild und streitlustig, eben richtige gesunde Jungen. Auf ganz normale Art, möchte ich betonen…«
    »Aber natürlich, Mrs Fane.«
    »Der liebe Walter war dagegen immer still und besche i den. Er war sehr gut im Basteln, dafür hatte er die g e schickten Finger und die Geduld. Nun hatte er sich ei n mal in mühevoller Arbeit ein Flugzeugmodell gebaut, und Robert, damals ein lustiger, übermütiger Junge, machte es kaputt. Ich kam glücklicherweise gerade ins Kinderzi m mer, als Robert rücklings auf dem Boden lag und Walter mit dem Schürhaken auf ihn eindrang. Ich brauchte me i ne ganze Kraft, um ihn wegzureißen. Er war außer sich und schrie in einem fort: ›Er hat’s mit Absicht getan! Ich schlage ihn tot!‹ Man konnte es wirklich mit der Angst kriegen. Jungen nehmen manches so bitterernst, nicht wahr?«
    »Und wie«, bestätigte Miss Marple mit gedankenvollem Nicken. Dann kehrte sie zum vorangegangenen Thema zurück. »Was machte das Mädchen, als die Verlobung endgültig in die

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