Ruhe unsanft
sein…«
15
D as »Royal Clarence« war das älteste Hotel der Stadt. Es hatte eine altertümliche Fassade mit einem großen Portal und eine ebenso altertü m liche Atmosphäre. Die Gäste waren bessere Familien, die regelmäßig für einen Monat im Jahr ans Meer fuhren.
Miss Narracott, die hinter dem Empfangspult thronte, war eine vollbusige Dame von siebenundvierzig mit al t modischer Frisur. Giles gegenüber taute sie auf, da ihr fachmännisches Auge ihn sofort unter die besseren Leute einreihte. Und Giles, der sehr redegewandt und ei n schmeichelnd sein konnte, wenn er wollte, spann ihr ein gut erfundenes Garn vor. Er habe mit seiner Frau gewe t tet, ob ihre Patentante vor achtzehn Jahren hier im »Royal Clarence« gewohnt habe oder nicht. Sie, seine Frau, b e hauptete, diese Streitfrage könne nie gelöst werden, weil so alte Gästebücher bestimmt längst vernichtet seien. Er, Giles Reed, sei dagegen der Meinung, dass ein vornehmes Etablissement wie das »Royal Clarence« seine Gästeb ü cher selbstverständlich aufbewahre. Es seien ja sozusagen historische Dokumente. Das Haus bestünde doch mi n destens seit hundert Jahren? »Nun, ganz so alt sind wir noch nicht, Mr Reed«, sagte Miss Narracott lächelnd. »Aber wir bewahren natürlich alle Gästebücher auf; sie enthalten sehr bekannte Namen. Der Prince of Wales war hier, und die alte Prinzessin Adlemar von Holstein-Rotz verbrachte mit ihrer Gesellschafterin mehrere Winter bei uns. Wir hatten auch einige berühmte Schriftsteller und Maler zu Gast, zum Beispiel den Porträtisten Mr Dov e ry.«
Giles antwortete mit angemessenem Respekt, und zur Belohnung wurde der für ihn interessante Jahrgang des geheiligten Gästebuchs aus dem Archiv geholt. Nachdem Miss Narracott ihn auf verschiedene glanzvolle Namen hingewiesen hatte, konnte Giles den August durchblä t tern.
Ja, da waren die Gesuchten! 27. Juli bis 17. August: M a jor Setoun Erskine und Frau, Anstell Manor, Daith, Northumberland.
»Gefunden!«, sagte Giles. »Darf ich mir die Eintragung abschreiben?«
»Gewiss, Mr Reed. Freut mich, dass Sie Ihre Wette g e wonnen haben. Hier ist Schreibzeug – oh, Sie haben selbst einen Füller. Also bedienen Sie sich.«
Giles notierte die Adresse in seinem Taschenkalender und entfernte sich unter Danksagungen.
Bei seiner Rückkehr war Gwenda im Garten beim Kräuterbeet. Sie richtete sich vom Jäten rasch auf und sah ihn fragend an. »Hat’s geklappt, Giles?«
»Ja. Ich glaube, wir haben ihn.«
Gwenda las mit leiser Stimme die Notiz: »Erskine. Anstell Manor, Daith, Northumberland. Ja, Edith Pagett sprach von Northumberland. Ob sie heute noch dort wohnen?«
»Wir müssen eben hinfahren und es feststellen.«
»Ja… ja, fahren wir besser direkt hin. Wann?«
»So bald wie möglich. Morgen? Wir nehmen das Auto. Auf diese Weise lernst du ein bisschen mehr von England kennen.«
»Aber wenn sie tot sind, oder umgezogen, und jetzt ganz andere Leute in dem Haus wohnen?«
»Nun«, sagte Giles achselzuckend, »dann kommen wir zurück und verfolgen die andern Hinweise weiter. Übr i gens habe ich heute Morgen an Dr. Kennedy geschrieben und ihn gebeten, uns die Briefe seiner Schwester zur A n sicht zu schicken, falls er sie noch hat, und möglichst auch eine frühere Schriftprobe von ihr.«
»Ich wünschte«, sagte Gwenda, »wir könnten mit dem damaligen Hausmädchen Kontakt aufnehmen – mit Lily, die der Katze die Schleife umgebunden hat!«
»Erstaunlich, dass du dich plötzlich daran erinnert hast.«
»Ja, nicht wahr? Aber auf Kinder macht so was eben Eindruck. Ich erinnere mich auch an Tommy. Er war schwarz mit weißer Brust und weißen Pfoten und bekam drei süße Kätzchen…«
»Was? Ein Kater?«
»Nun ja, er hieß Thomas – bis er sich eines Tages als Thomasine entpuppte. Aber um auf Lily zurückzuko m men. Was mag wohl aus ihr geworden sein? Edith Pagett hat sie offenbar aus den Augen verloren. Sie war nicht von hier, und nach der Auflösung des Haushalts von ›St. Catherine‹ ging sie nach Torquay in Stellung. Edith sagte, sie hätte nur noch ein- oder zweimal von ihr gehört, zum letzten Mal, dass sie geheiratet hätte, aber Edith wusste nicht mehr, wen. Wenn wir diese Lily aufstöbern kön n ten, würden wir vielleicht noch manches erfahren.«
»Und von deinem Kindermädchen Leonie auch.«
»Vielleicht, aber als Ausländerin wird sie nicht viel von den Vorgängen verstanden haben. Komisch, ich kann mich überhaupt nicht an Leonie
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