Ruhelos
– erklomm die Treppe zu meiner Küche. Sie trug trotz der Sommerhitze ihren langen, teuer aussehenden gelbbraunen Pelzmantel lose über der Schulter, und soweit ich es auf die Schnelle beurteilen konnte, sahen auch ihre anderen Sachen – die Satinbluse, die Camel-Hose, der schwere Schmuck – sehr teuer aus.
»Hallo, ich bin Ruth«, sagte ich. Wir gaben uns die Hand.
»Bérangère«, erwiderte sie und blickte sich in der Küche um wie eine Herzoginwitwe zu Besuch bei ihren armen Pächtern. Sie folgte mir ins Arbeitszimmer, wo ich ihr den Mantel abnahm und sie Platz nehmen ließ. Den Mantel hängte ich an den Türhaken, er war beinahe schwerelos.
»Ein wunderschöner Mantel«, sagte ich. »Und so leicht. Woraus ist er denn?«
»Das ist ein Fuchs aus Asien. Er wird rasiert.«
»Ein rasierter asiatischer Fuchs.«
»Ja … Ich spreche Englisch nicht so gut«, sagte sie.
Ich griff nach Living with the Ambersons, Vol. I. »Dann fangen wir doch einfach am Anfang an.«
Ich glaube, ich mag Bérangère, dachte ich, als ich die Straße hinablief, um Jochen von der Schule abzuholen. Während der zwei Stunden Unterricht (in denen wir die Familie Amberson kennenlernten – Keith und Brenda, ihre Kinder Dan und Sara sowie den Hund Rasputin) hatten wir beide vier Zigaretten geraucht (alles ihre) und zwei Tassen Tee getrunken. Ihr Vater sei Vietnamese, sagte sie, ihre Mutter Französin. Sie, Bérangère, arbeite in einem Pelzgeschäft in Monte Carlo – FOURRURES MONTE CARLO –, und wenn sie ihr Englisch verbessere, werde sie zur Geschäftsführerin befördert. Sie war unglaublich zierlich, von der Statur einer Neunjährigen, dachte ich, eine dieser Kindfrauen, in deren Gegenwart ich mir vorkam wie eine derbe Bauernmaid oder eine Ostblock-Athletin. Alles an ihr wirkte gehegt und gepflegt: ihr Haar, ihre Nägel, ihre Brauen, ihre Zähne – und ich war mir sicher, dass sie diese penible Sorgfalt auch den Regionen ihres Körpers zuteil werden ließ, die für mich unsichtbar blieben: ihren Zehennägeln, ihrer Unterwäsche – ihrem Schamhaar, wie ich mir denken konnte. Neben ihr kam ich mir räudig und ausgesprochen schmuddelig vor, aber hinter dieser manikürten Perfektion verbarg sich, so viel spürte ich, eine andere Bérangère. Beim Abschied fragte sie mich, wo man in Oxford Männer treffen könne.
Ich war die erste Mutter vor dem Eingang zu Grindle’s Vorschule in der Rawlinson Road. Nach dem zweistündigen Nikotinexzess mit Bérangère gierte ich nach einer weiteren Zigarette, aber vor der Schule wollte ich es mir doch lieber verkneifen, und um mich abzulenken, dachte ich an meine Mutter.
Meine Mutter Sally Gilmartin, geborene Fairchild. Nein, meine Mutter Eva Delektorskaja, halb Russin, halb Engländerin, ein Flüchtling der Revolution von 1917. Das ungläubige Lachen schnürte mir die Kehle zu, und ich merkte, dass ich heftig den Kopf schüttelte. Bleib ernst, bleib vernünftig, ermahnte ich mich. Die plötzliche Eröffnung meiner Mutter war in mein Leben hereingeplatzt wie eine Bombe, so dass ich sie anfangs als Märchen abtat und die Wahrheit nur langsam, in kleinen Schüben an mich heranließ. Es war einfach zu viel, um mit einem Mal verkraftet zu werden, und der Vergleich mit der Bombe war ausnahmsweise einmal passend. Ich kam mir vor wie ein Haus, das durch einen Beinahe-Treffer erschüttert wurde: eine dicke Staubwolke, abgeplatzte Kacheln, zerborstene Scheiben. Das Haus stand noch, aber es war angeknackst, aus den Fugen geraten und hatte seine Stabilität verloren. Anfangs hätte ich am liebsten an eine Art Wahngebäude geglaubt, eine beginnende Altersdemenz bei meiner Mutter, aber mir war schnell klar, dass es sich dabei um ein ziemlich kaputtes Wunschdenken meinerseits handelte. Meine andere Gehirnhälfte sagte: Nein, stell dich den Tatsachen. Alles, was du über deine Mutter zu wissen glaubtest, war eine raffiniert gebastelte Legende. Ich fühlte mich plötzlich allein, hilflos, im Dunkeln zurückgelassen. Was macht man in einer solchen Lage?
Ich kramte alles zusammen, was ich über die Vergangenheit meiner Mutter wusste. Sie war in Bristol geboren, so die Legende, als Tochter eines Holzhändlers, der in den zwanziger Jahren nach Japan gegangen war. Dort wurde sie von einer Hauslehrerin unterrichtet und arbeitete, wieder in England, als Sekretärin bis zum Tod ihrer Eltern kurz vor dem Krieg. Ich erinnerte mich, dass sie von ihrem geliebten Bruder Alisdair erzählt hatte, der 1942 bei Tobruk
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