Ruhelos
umgekommen war … Dann die Hochzeit mit meinem Vater, Sean Gilmartin, während des Krieges in Dublin. Ende der Vierziger gingen sie nach England zurück, nach Banbury, Oxfordshire, wo Sean bald eine gut gehende Anwaltspraxis besaß. Die Geburt der Tochter Ruth folgte 1949. So weit alles ziemlich normal und durchschnittlich – nur die Jahre in Japan geben der Sache einen fremdländisch-exotischen Touch. Ich konnte mich sogar an ein altes Foto von Alisdair erinnern, Onkel Alisdair, das eine Weile auf dem Tischchen im Wohnzimmer gestanden hatte. Und an ausgewanderte Cousins und andere Verwandte in Südafrika und Neuseeland, über die gelegentlich geredet wurde. Wir kriegten sie nie zu sehen, manchmal kam eine Weihnachtskarte. Die in alle Welt ausgeschwärmten Gilmartins dagegen versorgten uns mit mehr Verwandtschaft, als ich verkraften konnte (mein Vater hatte zwei Brüder und zwei Schwestern, es gab gut ein Dutzend Cousins und Cousinen). Nicht die geringsten Besonderheiten also, eine Familiengeschichte wie jede andere, nur der Krieg und seine Folgen hatten ihre Einschnitte in den ansonsten völlig unauffälligen Biographien hinterlassen. Sally Gilmartin war undurchsichtig wie dieser Torpfosten, dachte ich. Ich legte die Hand auf den warmen Sandstein, und mir wurde klar, wie wenig wir in Wahrheit über unsere Eltern wissen, wie vage und unbestimmt sie ihre Biographie beschreiben, fast wie Heiligengeschichten – alles nur Legende und Anekdote –, bis wir uns die Mühe machen, tiefer zu graben. Und nun diese neue Geschichte, die alles änderte. Beim Gedanken an all die Enthüllungen, die mir noch bevorstanden, spürte ich ein Würgen im Hals – als wäre das, was ich schon wusste, nicht erschreckend genug. Etwas im Tonfall meiner Mutter sagte mir, dass sie mir alles erzählen wollte, bis ins kleinste, intimste Detail. Vielleicht hatte die Eva Delektorskaja, die ich nie kennengelernt hatte, nun beschlossen, dass ich absolut alles über sie erfahren sollte.
Inzwischen waren noch andere Mütter gekommen. Ich lehnte mich an den Torpfosten und rieb die Schultern am rauen Sandstein. Eva Delektorskaja, meine Mutter … Was sollte ich davon glauben?
»Sie haben beide eine Eins«, flüsterte mir Veronica Briggstock ins Ohr und riss mich aus meinen Grübeleien. Ich drehte mich um und gab ihr aus irgendeinem Grund einen Wangenkuss – normalerweise umarmten wir uns nicht mal, weil wir uns fast täglich sahen. Veronica – auf keinen Fall Vron, auf keinen Fall Nic – war Krankenschwester in der John-Radcliffe-Klinik und geschieden von Ian, einem Labortechniker am Chemischen Institut der Uni. Ihre Tochter Avril war Jochens beste Freundin.
Wir standen beieinander und tauschten die Neuigkeiten des Tages aus. Ich erzählte von Bérangère und ihrem eindrucksvollen Mantel, während wir darauf warteten, dass unsere Kinder aus der Schule kamen. Die Single-Mütter vor der Schule schienen sich unbewusst – oder auch bewusst – zueinander hingezogen zu fühlen; obwohl sie die verheirateten Mütter und die gelegentlich auftauchenden täppischen Väter mit vollendeter Höflichkeit behandelten, blieben sie offenbar am liebsten unter sich. Sie konnten ihre speziellen Probleme austauschen, ohne lange Erklärungen, und es gab keinen Grund, unser Single-Dasein zu verleugnen – wir hatten alle unsere Geschichten zu erzählen.
Wie um das zu illustrieren, zog Veronica heftig über Ian her, der sich, seit er eine neue Freundin hatte, immer öfter vor den vereinbarten Wochenenden mit Avril drücken wollte. Als die ersten Kinder herauskamen, unterbrach sie sich, und mich befiel sofort die irrationale Angst, die ich immer bekam, wenn ich unter den vertrauten Gesichtern nach Jochen suchte, irgendeine atavistische Mutterangst, vermutlich – das Höhlenweibchen hält Ausschau nach seiner Brut. Dann sah ich ihn – sein ernstes, spitzes Gesicht, seine Augen, die nach mir suchten –, und die Angst war so schnell weg, wie sie gekommen war. Ich überlegte, was ich zum Abendessen machen sollte und welche Sendung wir sehen könnten. Alles war wieder im Lot.
Zu viert trotteten wir die Banbury Street hinauf nach Hause. Es war später Nachmittag, und die Hitze drückte uns körperlich nieder, als hätte sie um diese Zeit eine besondere Schwerkraft. Veronica meinte, seit ihrem Tunesienurlaub sei ihr nicht mehr so heiß gewesen. Vor uns liefen Avril und Jochen, Hand in Hand, in ein Gespräch vertieft.
»Was reden die beiden so viel?«, fragte Veronica.
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