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Ruhelos

Ruhelos

Titel: Ruhelos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Boyd
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mich um und winkte ihn herein. Ludger saß am Küchentisch, in T-Shirt und Shorts, und löffelte seine Cornflakes. Ich ahnte, was in Hamid vorging – sein künstliches Lächeln, sein steifes Benehmen –, aber in Ludgers Gegenwart konnte ich ihm den Unterschied zwischen Schein und Sein nicht erklären, also beschränkte ich mich darauf, die beiden einander vorzustellen.
    »Hamid, das ist Ludger, ein Freund von mir aus Deutschland. Ludger – Hamid.«
    Am Vortag hatte ich es nicht getan. Ich war zur Haustür hinuntergegangen, hatte Ludger heraufgeholt, im Wohnzimmer abgesetzt und – unter einigen Schwierigkeiten – mit Hamid weitergearbeitet. Als die Stunde zu Ende und Hamid weg war, ging ich zu Ludger – er lag auf dem Sofa und schlief.
    Jetzt streckte Ludger die Faust in die Höhe und sagte »Allahu akbar«.
    »Sie erinnern sich doch an Ludger?«, sagte ich munter. »Er kam gestern, während unserer Stunde.«
    Hamids Gesicht zeigte keine Regung. »Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er.
    »Wollen wir nach hinten gehen?«, fragte ich.
    »Ja. Bitte nach Ihnen, Ruth.«
    Ich führte ihn ins Arbeitszimmer. Er war ganz anders als sonst. Er wirkte ernst, fast gequält in gewisser Weise. Ich stellte fest, dass er seinen Bart gestutzt hatte – das machte ihn jünger.
    »So«, sagte ich, noch immer im Ton falscher Jovialität, und setzte mich an meinen Schreibtisch. »Wollen wir doch mal sehen, was die Ambersons heute treiben.«
    Er ignorierte es. »Dieser Ludger«, sagte er, »ist er der Vater von Jochen?«
    »Nein, guter Gott, nein! Wie kommen Sie darauf? Nein – er ist der Bruder von Jochens Vater, der jüngere Bruder von Karl-Heinz. Nein, nein, absolut nicht.« Ich lachte nervös und stellte fest, dass ich sechsmal verneint hatte. Stärker hätte man ein Nein nicht unterstreichen können.
    Hamid versuchte vergeblich, seine Erleichterung zu verbergen. Sein Grinsen wirkte fast idiotisch.
    »Oh. Schon gut. Nein, ich dachte …« Er hob die Hände. »Verzeihen Sie, ich sollte nicht solche Verschlüsse ziehen.«
    »Rückschlüsse.«
    »Rückschlüsse. Also: Er ist Jochens Onkel.«
    Das stimmte, aber ich musste zugeben, dass ich Ludger Kleist noch nie so gesehen hatte (er war nicht im Geringsten onkelhaft – allein die Verbindung »Onkel« und »Ludger« löste bei mir Grusel aus), und tatsächlich hatte ich ihn auch Jochen als »Freund aus Deutschland« vorgestellt, und bisher hatten sie sich nicht näher kennenlernen können, weil Jochen zu einem Kindergeburtstag gegangen war. Ludger sagte, er wolle »ein Pub« besuchen, und als er am Abend zurückkam, war Jochen schon im Bett. Die Onkelbeziehung musste also warten.
    Ludger schlief auf einer Luftmatratze in dem Zimmer, das wir als Esszimmer bezeichneten – zu Ehren der einzigen Dinnerparty, die ich seit meinem Einzug gegeben hatte. Es war, zumindest theoretisch, das Zimmer, in dem ich meine Dissertation schrieb. Auf dem ovalen Tisch stapelten sich Bücher, Notizen und die Entwürfe meiner verschiedenen Kapitel. Entgegen den staubigen Tatsachen hielt ich an dem Glauben fest, dass dies das Zimmer war, in dem ich an meiner Dissertation arbeitete – schon sein Vorhandensein, seine Bestimmung und seine Aufteilung schienen meinem Wunschdenken Realität zu verleihen, oder wenigstens ein bisschen: Dies war der Schauplatz meiner geruhsam-wissenschaftlichen Existenz – mein verworren-chaotisches Alltagsleben nahm die übrige Wohnung ein. Das Esszimmer war meine diskrete kleine Zelle des geistigen Beharrens. Doch mit wenigen Handgriffen zerstreute ich diese Illusion: Wir schoben den Tisch an die Wand; wir legten Ludgers Luftmatratze auf den Teppich, und aus dem Esszimmer war wieder ein Gästezimmer geworden – eins, in dem sich Ludger sehr wohlfühlte, wie er behauptete.
    »Wenn du wüsstest, wo ich schon überall geschlafen habe«, sagte er und zog das rechte Augenlid nach unten. »Mein Gott, Ruth, für mich ist das hier das Ritz.« Und dann stieß er einen dieser schrillen Lacher aus, die ich besser kannte, als mir lieb war.
    Wir, Hamid und ich, wandten uns den Ambersons zu. Die Familie will in die Ferien fahren, nach Dorset, doch Keith Amberson kann das Auto nicht starten. Jede Menge Verben im Conditional Perfect. Ich hörte Ludger durch die Wohnung laufen.
    »Bleibt Ludger lange?«, fragte Hamid. Offenbar hatten wir beide nur Ludger im Sinn.
    »Ich glaube nicht«, erwiderte ich, wobei mir einfiel, dass ich ihn noch gar nicht gefragt hatte.
    »Sie sagten, Sie hätten ihn

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