Ruhelos
T-Shirt aus, und wir liefen Hand in Hand, ohne zu reden, jeder in seine Gedanken vertieft.
Am Tor fragte er: »Ist Ludger noch da?«
»Ja. Er bleibt ein paar Tage.«
»Ist Ludger mein Daddy?«
»Um Gottes willen, nein. Ganz bestimmt nicht. Ich sagte dir doch – dein Vater heißt Karl-Heinz. Ludger ist sein Bruder.«
»Oh.«
»Warum hast du geglaubt, er könnte dein Vater sein?«
»Er ist aus Deutschland. Und du hast gesagt, ich bin in Deutschland geboren.«
»Das stimmt auch.«
Ich hockte mich hin und schaute ihm in die Augen, nahm ihn bei den Händen.
»Er ist nicht dein Vater. Ich würde dich niemals belügen, mein Schatz. Dir sage ich immer die Wahrheit.«
Er wirkte zufrieden.
»Komm, drück mich«, sagte ich, und er legte die Arme um meinen Hals und küsste mich auf die Wange. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn bis zu unserer Treppe und dann die Treppe hinauf. Als ich ihn absetzte, sah ich Ludger durch die Glastür der Küche. Er kam aus dem Badezimmer und lief durch den Korridor auf uns zu, Richtung Esszimmer. Er war nackt.
»Bleib hier«, sagte ich zu Jochen und lief schnell durch die Küche, um Ludger abzufangen. Ludger rubbelte sich das Haar mit einem Handtuch und summte vor sich hin, während er auf mich zulief, sein Schwanz pendelte dabei hin und her.
»Ludger.«
»Oh«, sagte er. »Hi, Ruth.« Und ließ sich Zeit mit dem Bedecken seiner Blöße.
»Würdest du das unterlassen, Ludger? Bitte nicht in meinem Haus.«
»Sorry. Ich dachte, du wärst weg.«
»Es kommen Schüler an die Tür, zu allen Zeiten. Sie können hineinsehen. Das ist eine Glastür.«
Er reagierte mit seinem dreckigen Grinsen. »Wär doch eine nette Überraschung. Aber dich stört’s nicht.«
»Doch, es stört mich. Bitte lauf nicht nackt herum.« Ich machte kehrt und holte Jochen herein.
»Entschuldige, Ruth«, rief er mir weinerlich nach. Er konnte sich denken, dass ich stocksauer war. »Ich hab mir nichts dabei gedacht, ich war doch Pornodarsteller. Aber ich laufe nicht mehr nackt herum. Versprochen.«
Die Geschichte der Eva Delektorskaja
Belgien 1939
Eva Delektorskaja wachte früh auf. Ihr fiel ein, dass sie allein in der Wohnung war, daher ließ sie sich Zeit mit der Morgentoilette. Sie kochte Kaffee und nahm ihn mit hinaus auf den kleinen Balkon – es schien eine blasse Sonne. Vom Balkon schaute sie über den Bahndamm in den Parc Marie Henriette, dessen Bäume nun überwiegend kahl waren, und zu ihrer gelinden Überraschung sah sie ein Pärchen über den See rudern, der Mann legte sich gewaltig in die Riemen, um seine Kräfte zu zeigen, die Frau klammerte sich an die Bordwände, vor lauter Angst, ins Wasser zu fallen.
Sie beschloss, zu Fuß zur Arbeit zu gehen. Es schien sonnig zu bleiben, und obwohl es November war, lag etwas Ermunterndes in der kalten Luft und den harten, schrägen Schatten. Sie setzte den Hut auf, zog den Mantel über und band sich den Schal um. Nachdem sie zweimal abgeschlossen hatte, schob sie sorgfältig das kleine gelbe Stück Papier unter den Türpfosten, so dass es kaum zu sehen war. Wenn Sylvia zurückkam, würde sie es durch ein blaues Papier ersetzen. Eva wusste, dass Krieg war, aber im verschlafenen Ostende wirkten solche Vorkehrungen beinahe absurd: Wer zum Beispiel sollte das Bedürfnis verspüren, in diese Wohnung einzubrechen? Dennoch verlangte Romer von seiner Einheit, dass sich alle »operativ« verhielten und die entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen zu ihrer zweiten Natur werden ließen.
Sie lief durch die Rue Leffinghe, bog links in die Chaussée de Thourot ein, streckte das Gesicht der milden Sonne entgegen und dachte absichtlich nicht an den Tag, der vor ihr lag, um genauso zu wirken wie die jungen Belgierinnen, die ihr auf der Straße entgegenkamen – wie eine junge Frau, die in einer kleinen Stadt eines kleinen Landes ihrer Arbeit nachging, in einer Welt, die noch irgendwie in Ordnung war.
Am Glockenturm bog sie rechts ab und lief quer über den kleinen Platz auf das Café de Paris zu. Sie erwog, eine Tasse Kaffee zu trinken, aber da Sylvia darauf wartete, von ihrer Nachtschicht erlöst zu werden, ging sie zügig weiter. Am Straßenbahndepot sah sie die Anschlagtafel mit den verblichenen Plakaten der vorjährigen Rennen – Le Grand Prix International d’Ostende 1939 –, seltsame Andenken an eine Welt, die damals noch im Frieden lebte. Als sie am Postamt links in die Rue d’Yser einbog, sah sie sofort das neue Schild, das Romer hatte anbringen lassen.
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