Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
um vor dem Einzug der neuen Mieter die Generalrenovierung in Angriff zu nehmen, klingelte Frau Soller an meiner Tür Sturm. «Ich hab was für Sie! Eine Entdeckung! Kommen Sie schnell runter!» Die Maler hatten im Schlafzimmer der Sollers die Blümchentapete heruntergerissen, und unter einer früheren lindengrünen Schicht kamen die Seiten der
Deutschen Allgemeinen Zeitung
zum Vorschein, die 1941 zur Isolierung angebracht wurden. «Ein Jahr vorher bin ich geboren», erklärt Frau Soller ganz außer Atem, indem sie diese archäologische Trouvaille auf einer persönlichen Zeitleiste zu situieren versucht. Und so stieg ich mit mehreren riesigen Fetzen grobkörnigen Papiers in der Hand wieder in meine Wohnung hinauf, während mich die Nachbarn mit besorgtem Blick musterten. Sie wagten nicht zu fragen, was ich mit diesem Naziblatt vorhatte.
Die Mieter, auf deren Spur Frau Soller an jenem Morgen rein zufällig gestoßen war, haben ihre Wohnung im Juni 1941 renoviert. Am 4 . Juni stirbt Kaiser Wilhelm II . in seinem niederländischen Exil, und am 22 . Juni überfällt die Wehrmacht unter dem Decknamen «Unternehmen Barbarossa» die Sowjetunion. An jenem Tag erlebt meine Straße einen ganz gewöhnlichen Tag und ist noch völlig ahnungslos. Auf der Zeitung klebten vertrocknete Kleisterklümpchen, aber einzelne Brocken des Artikels ließen sich trotzdem entziffern. Der Leitartikel unternimmt eine gehässige Analyse der englischen Kriegsführung. Das Oberkommando der Wehrmacht teilt mit, dass britische Flugzeuge abgeschossen worden sind, «eine schwarze Woche für die RAF ». Und vor diesem surrealen Hintergrund geht der Alltag weiter, während die deutschen Einsatzgruppen in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht die systematische Ermordung der jüdischen Bevölkerung, der KP -Funktionäre, der Sinti und Roma und der Kriegsgefangenen auf sowjetischem Boden vorantreiben. Werbung für Sommerkleider, Staubmäntel und Verdauungsdragées, Immobilienanzeigen mit Tauschmöglichkeiten und Angebote von möblierten Zimmern. Versteigerungen. Am 24 . Juni berichtet die Zeitung über «den ersten Tag im Osten» und publiziert Todesanzeigen. Daneben Stellenangebote, im Wesentlichen für weibliche Berufe. Kindergärtnerin, Anwaltsgehilfe, Wirtschafterin, Tagesmädchen, gewandte Telefonistin, Stenotypistinnen. Börsen- und Valutakurse werden angegeben, und obwohl Deutschland gegen einen großen Teil Europas im Krieg ist, bietet die Sprachenschule des Dr. Heil «eine Schnellmethode zum Selbststudium für Englisch, Französisch, Italienisch» an. Am 25 . Juni meldet das Oberkommando der Wehrmacht, dass «große Erfolge im Osten zu erwarten» sind, und berichtet über «Luftangriffe auf Liverpool».
Reihenweise Ritterkreuzträger, Sturmbannführer und Fallschirmjäger wachten jahrelang in Habachtstellung über den Schlaf der Sollers, die keine Ahnung hatten von dieser martialischen Anwesenheit in der Intimität ihres Schlafzimmers.
In meinem Arbeitszimmer auf dem Bauch liegend betrachte ich die auf dem Parkett verstreuten staubigen Papierinseln. Der Nationalsozialismus scheint den Gebäuden meiner Straße unter die Haut gegangen zu sein. Nein, das war nicht als Metapher gemeint, sondern als ein sehr reales Phänomen, das ich an den Wänden der Soller-Wohnung beobachtete. Dieses Jahr 1941 , das seit 70 Jahren am Gips klebte. Diese einzelnen, übereinanderliegenden Papierschichten. Diese Überlagerung von Geschichten und Epochen. Ein Leben hat das nächste abgelöst. Die Mieter folgten aufeinander. Und ab und zu taucht plötzlich ein Relikt der Vergangenheit wieder auf.
Und dann trug der Umzugslaster Frau Soller, ihren Mann, ihre Katzen und ihren Palisanderschrank auf und davon. Von ihrer Existenz blieben nur wenige Spuren zurück. Der helle Abdruck einiger Bilderrahmen auf der Tapete. Eine Haarnadel, in einer Fußbodenleiste eingeklemmt. Ein tief im Schrank vergessener Aluminiumlöffel. Ein paar Spinnweben an den Decken, Wollmäuse, die über den nackten Fußboden rollten, Brandflecken auf dem Linoleum. Ein in der Luft baumelndes Stromkabel, ein Haken im Badezimmer, ein paar brüchige Blumentöpfe auf einem Regal, ein Stapel alter Zeitungen in einer Ecke, die Küchenvorhänge mit den kleinen Fischen drauf, die hinter den Badezimmerspiegel gesteckte Karte aus Mallorca, der Fettfleck an der Decke über dem Kochherd, ein völlig zusammengeschrumpelter Schwamm im Spülbecken. Und die mit Schmetterlingen bestickte Vergissmeinnichtkrone aus
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