Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
verbliebenen (West-)Berliner, die in den schwierigen, skurrilen Zeiten des Kalten Kriegs ausharrten? Wohl kaum. Eher Menschen von anderswo, für die Berlin nun mal ‹in› und ‹trendy› ist. Menschen neuer Demographien, die unbedingt eine Zweit- (oder Dritt-)Wohnung, mitsamt Tiefgaragenparkplatz, im Herzen Europas benötigen. Menschen, die das Überschatten anderer als ihr (Erwerbs-)Recht ansehen. Menschen, die gerne – wenn auch aus bloßen Investitionsgründen – in einer Neuimmobilie die alten Axialitäten bewohnen werden.»
Mehrere Monate lang harrten elf Meuterer in ihren kleinen Wohnungen aus: Ein rothaariger Anwalt, der um die Straßenecke aufgewachsen ist, führte die Revolte an, «Zeigt den Baulobbyisten die Rote Karte!», assistiert von der jungen ökologischen Aktivistin Hannah mit den traurigen Augen, deren Petition an den Bundestag 2000 Unterschriften erreichte, ein Zimmermann, ein Polizeischüler griechischer Abstammung, ein türkischer Kassierer bei Woolworth, eine sehr alte, über neunzigjährige Dame, seit 30 Jahren Mieterin, die in eine Senioren- WG «verfrachtet» werden soll, wo «ihre Seele nie ankommen wird», ein Doktor der Physik, der vom Arbeitslosengeld lebt, eine Polin, Mitte 20 , eine etwas problematische Frau, «die sich nicht richtig im Griff hat» und von Hartz IV und Alkohol lebt, ein Rentner … Sie alle weigerten sich, die Bastion zu verlassen. Sie legten Widerspruch ein und forderten, das sechzigjährige Gebäude solle «schick gemacht und revitalisiert» werden. Ich hatte Mühe, mir vorzustellen, wie man diese Bruchbude aufstylen sollte. Die Fassade wie in der Nummer 27 in einem kräftigen Ton neu streichen? Neue Balkone aus Stahl draufsetzen? Nein, hier schien der Kampf von vornherein verloren.
Bald stand vor dem Haus das Werbeschild «Schönste Lage. Wie gewohnt». Riesengroß, unübersehbar, nachts von Projektoren bestrahlt und mit seinen Betonfüßen gut im Boden verankert. Beim ersten Schnee klaubten Aufsässige den auf die Fahrbahn gestreuten Kies vom Boden und bewarfen das Schild damit, das einige Tage lang einem Gemälde von Pollock glich. Und dann setzte der Graffiti-Walzer ein. Jede Woche ein neuer Spruch. «Geist macht geil!» «Weg mit den Bonzen!» Und mehrmals das klassische, immer wieder passende «Fuck you!», das auf Englisch so viel prägnanter ist als auf Deutsch. Kaum war eins beseitigt, tauchte das nächste auf.
Die elf Aufständischen wurden hinausgeworfen. Das Gebäude wurde zwangsgeräumt. Es blieb nichts als ein paar lächerliche Anzeichen einer gelöschten Existenz. Eine graue Tüllgardine hinter einem Fenster im vierten Stock. Eine Lampiongirlande auf dem Balkon des sechsten. Ein vergilbtes Grasbüschel im Blumenkasten des dritten. Aus einigen Balkonen schossen Pflanzenstängel heraus, die von einem erstaunlichen Lebenswillen in diesem mit dem Tod ringenden Gebäude zeugten. Das zerrissene Foto einer rehäugigen orientalischen Braut mit Diadem und Schleier. Eine zwischen die Stäbe eines Geländers geklemmte leere Rotweinflasche. Glasscherben, ein kaputter Fensterladen, eine Wäscheleine, eine umgekippte Kloschüssel, eine lachsfarbene Küchentapete. Im Erdgeschoss an der Wand ein orangefarbenes Herz ohne Initialen oder Vornamen, ohne
Ich liebe dich
oder
Für immer
. Nichts als ein unglückliches kleines Herz, das bald zu schlagen aufhören würde. Am Zaun rund um das Haus Fetzen von Schnüren und Bändern, die von der schönen Zeit des Aufstandes zeugten, als noch alles möglich war. Einzig drei Sonnenblumen am Fuße des Gebäudes streckten siegessicher ihre Köpfe empor.
Der Vertriebsstart fand an einem Samstag statt. Hochtief sorgte für Musik und Verpflegung, stellte sein Projekt vor und gab das Startzeichen für den Verkauf von Apartments, Penthouses und Maisonettewohnungen für Best Ager, Familien, Singles und andere Aspiranten auf der Suche nach einer Adresse «mit viel Spielraum für die persönliche Lebensqualität». Es wird erzählt, dass große Limousinen ihre Runde um den Platz drehten. Dass an jenem Tag 25 Wohneinheiten reserviert wurden. Auf den Abbildungen entdeckten wir zum ersten Mal das Corpus Delicti, ein ganz banales, austauschbares Gebäude. Eine auf einen Hightech-Korpus aufgeklatschte altertümelnde Fassade. Hatte sich der Architekt nicht vom historischen Gebäude inspirieren lassen, das der Bauherr Carl Graf Anfang des letzten Jahrhunderts durch den Architekten Paul Wiesener erbauen ließ? Das einzige
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