Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
intakte Haus des Platzes aus der Zeit ist die ehemalige Chamisso-Schule, die Lilli Ernsthaft, Ilse Rothkugel, Hannah Kroner und ihre Freundin Susanne Wachsner einst besuchten, heute eine Grund- und Volkshochschule. Die anderen Gebäude sind nach dem Krieg entstanden. Sie stehen schräg zum Platz, zerstören die Harmonie und das Zusammenspiel der Symmetrien. Die neuen Investoren antworteten auf die seit dem Mauerfall wachsende Nostalgie für das alte Vorkriegsberlin. Sie versuchen alles auszulöschen, was nach 1939 in dieser Straße geschehen ist. Der Kasten, der von der Verwüstung zeugt, die unsere Straße erlebt hat, musste eliminiert werden. Und ich machte mir Sorgen: Würde sich meine Straße auch mit diesem Retrokitsch herausputzen?
Der Hochglanzprospekt rühmte einen «Kiez mit Charme» in einer «Metropole mit Herz». «Hier finden Sie Großstadtflair und Kleinstadtromantik, bunte Vielfalt, aufgeschlossene Menschen. Eine einzigartige Melange aus bürgerlichem Ambiente in gediegenen Wohnvierteln und quirligem Kiez …» Er beschrieb die «herrschaftlichen Häuser aus der Gründerzeit», die das Straßenbild bestimmten. Wir tauschten unter uns Nachbarn perplexe Blicke aus. Wir hatten Mühe, unsere Straße in diesem Werbegedicht wiederzuerkennen. Wo stößt denn hier «Geschichte auf Moderne»? Wo sind die «charmanten Cafés und Bistros, die zum Verweilen bei Espresso, Milchkaffee, Croissant einladen»? Geht es bei uns wirklich «freundlich und charmant zu»? Wo bloß weht dieser so raffinierte «Esprit»? Und vor allem, von welchem «reizvollen Platz», «zweifellos einer der stilprägenden Plätze in Schöneberg», ist da die Rede? Doch nicht etwa von unserer Verkehrsinsel mit ihrer Rotunde mit den verwilderten Rasenflächen und Hundehaufen? Der von Georg Haberland angelegte Schmuckplatz verdient seinen Namen schon lange nicht mehr. Diese Szene, auf der man sich, wie auf den italienischen Piazzette, abends zeigte, um vor der Fassadenpracht zu flanieren, ist heute eine Karambolage von sechs Straßen, ein Durchfahrtskarussell. Die Wagen brettern auf den Platz und kreisen um das Mittelrondell. Die Vorfahrtsfrage ist nicht einfach, und mehrmals täglich hört man die Schreie und Beschimpfungen eines Radfahrers, dem ein Autofahrer die Vorfahrt genommen hat. Unser Platz ist ein Anziehungspunkt von Stress und Konflikten. Alles andere als eine grüne Oase des Friedens, wo die Zeit sich verlangsamt, die Spannungen sich verflüchtigen.
Es ist im Übrigen nichts vorgesehen, damit man einen Moment der Rast einlegen könnte: keine Bank, kein gepflegtes Rasenstück, um sich auszustrecken. Der Rand des schönen Brunnens mit seinen Bronzefiguren ist viel zu unbequem. Seit 20 Jahren denken die Stadtplaner nach. Kein Geld. Kaum Ideen. Sicher, die städtischen Straßenkehrer sammeln noch immer die Papierfetzen ein, aber die Verwahrlosung geht weiter. Bei Regenwetter lassen die Hundehalter, die keine Lust haben, bis zum Volkspark zu gehen, ihre Hunde die Platanen begießen. Nachts streifen die Füchse umher.
Zu jener Zeit verschwindet von einem Tag auf den anderen eine Bank aus dem Pennerpark. In der Straße kursieren die verrücktesten Gerüchte. Meine Nachbarn fangen an zu fabulieren. Sie verdächtigen sogar Hochtief, einen nächtlichen Überfall veranstaltet zu haben, um vor der Ankunft der potenziellen Käufer das Revier der Säufer auszuheben. Liest man die Broschüre von Hochtief, glaubt man beinahe, unser «Pennerpark» würde sich in eine Miniaturversion des Jardin du Luxembourg verwandeln. Anstelle der beiden Holzhütten und der mickrigen Rutsche ein «liebevoll gestalteter Spielplatz mit einem Lern-und-Spiel-Pfad für Kinder». Und als ich inkognito anrufe und die beunruhigte Bürgersfrau spiele, verspricht mir der Makler eine «grüne Lunge» ohne diese «Ecken und Kanten, wo die Gruppierungen, die da nicht sein sollen, sich verstecken können zum Biertrinken und um sich private Grill-Feste zu liefern». «Die Käufer sind nur Privatleute! 95 % deutsche Staatsbürger!», versichert er mir ohne Rücksicht auf meinen französischen Akzent. Die DKP schlägt sogar vor, den Park umzubenennen. Die Genossen holen tief aus einer alten Schublade ein schlagendes Argument hervor: «Angesichts der Tatsache, dass Hochtief im NS -Regime im großen Stil Zwangsarbeiter aus verschiedenen Konzentrationslagern ausgebeutet hat, müsste zur Wahrung der Ehre der jüdischen Gründerin der Sozialen Frauenschule der Park umbenannt
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