Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
Nächte vorhersah, weil unsere Straße dabei war, sich zum Epizentrum der Berliner Schwulenszene zu entwickeln, wurden die Sünden «der sexuellen Zügellosigkeit und die unzüchtigen Worte», die der kleine polnische Zeuge geißelt, plötzlich zu einer wahrhaft dantischen Bedrohung.
Ein einziger meiner Nachbarn, ein einflussreicher Mann, wagte es – eine Vertraulichkeit, die nur für mich allein bestimmt war –, sich zu freuen, dass das neue Gebäude endlich das Niveau unserer Straße heben würde. Er hatte vor, dem Bezirksamt einen Brief mit Vorschlägen zur Neugestaltung des Platzes zu schicken. Ein kleines Café neben dem Brunnen zum Beispiel … Und während er sich in Phantasien von Croissants und Milchkaffee nach seinem morgendlichen Jogging erging, beobachtete ich die schiefen Blicke der anderen, gab dem Ahnungslosen einen kleinen Klaps auf die Schulter und riet ihm, weniger laut zu sprechen, wenn er nicht gelyncht werden wolle.
Ich verbrachte Stunden damit, um den tief in meine Straße gerissenen Krater herumzustreifen. Bald war der ganze Platz von dicken rosaroten Röhren umrahmt. Plötzlich sah unser Schmuckplatz aus wie ein improvisiertes Centre Pompidou.
Wieder einmal ging eine Epoche zu Ende. Die Spuren des Krieges verschwanden. Hin und wieder überfiel mich eine dumpfe Traurigkeit. Ich dachte an jene, die weggezogen waren, an jene, die ans andere Ende der Welt geflüchtet waren, an all jene, die tot sind. Und ich fragte mich, ob ich wirklich das Recht hatte, mich dieser sanften Nostalgie zu überlassen und einem Gebäude nachzutrauern, das ich stets hässlich und unwürdig gefunden hatte. Ich verspürte eine Art Zärtlichkeit, eine absurde Anhänglichkeit für meine von der Geschichte gebeutelte Straße. Sie fand keinen Frieden. Wie würde sie in ein paar Jahrzehnten aussehen? Das Gerücht machte die Runde, den Häusern der 7 A und der 7 B stehe dasselbe Schicksal bevor. Die Vermesser haben bereits das Terrain abgesteckt, der Investor einen Bauantrag eingereicht.
In gewisser Weise schließt sich der Kreis. Meine Straße ist dabei, ihr ursprüngliches Standing wiederzuerlangen, als sie zu Beginn des Jahrhunderts noch eine exklusive Adresse war, in
gehobener Wohnlage
, wie die Makler heute sagen. Nach dem Mauerfall glaubte ich lange Zeit, sie würde nie der Normalisierung weichen. Ich sah sie als widerstandsfähig, die Stirn zeigend und die Faust hebend. Aber hatte ich dabei die Macht der Immobilienspekulation unterschätzt? Würde meine Straße nun kapitulieren? Was würde aus dem Mann im Unterhemd von zweifelhafter Sauberkeit werden, der den ganzen Winter über am Fenster steht, um die Baugrube auf dem Platz zu betrachten? Aus der ehemaligen Hauswartsfrau, die ihre Abende rauchend, den Oberkörper auf ein Kissen im Fenster ihrer Erdgeschossloge gelehnt, verbringt? Seit Jahrzehnten sieht sie dem Theater der Straße zu, sieht, wie sich neue Kulissen vorschieben, in unseren Häusern die Rollen umverteilen. Was wird aus den Pennern vom Park? Den Rentnerinnen aus einer anderen Zeit? Diese einfachen Leute,
arm, aber sexy
, machen sich in dem Katalog von
House & Garden
, an den uns die neuen Bauherren glauben lassen wollen, natürlich nicht sehr gut. Wird sich meine Straße herausputzen lassen? Vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan werden? Statt kaputt zu sein, auf einmal schmuck werden? Statt rau pittoresk? Wird sie zu einer Szenestraße mit Möbel- und Trödelgeschäften, Musikclubs, Boutiquen, angesagten Kneipen?
Das zu glauben fällt mir schwer.
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Die Straße, 1915
Der neue angelegte Schmuckplatz, 1908
Festumzug der Bäcker-Zwangsinnung Schöneberg, 1911
Die ersten Bewohner: Lilli Ernsthaft und ihre Mutter am Fenster ihrer Wohnung in der Nummer 3
Heinrich und Lilli Ernsthaft mit ihrem Sohn Harry, 1925
Lilli Ernsthaft und Josephine Kutschera
Ausweis für die «Personne Déplacée» Lilli Ernsthaft, 1947
Die Hochzeit von Miriam Blumenreichs Eltern
Miriam mit ihrer Mutter Klara Fiegel
Klara Fiegel als Kindergärtnerin
Miriam Blumenreich in Kiryat Bialik heute
Der vierzehnjährige Jochanan Beer auf dem Schiff von Triest nach Haifa, 1938
Hans-Hugo Rothkugel bei seiner Einschulung
Die Eltern Rothkugel, daneben Hans-Hugos Großmutter Anna und Onkel Rudolf
Hans-Hugo Rothkugels Bruder Paul (3.v.r.) mit Freunden im Kibbuz
John Ron als junger Meteorologe des neu gegründeten Staates Israel am Flughafen von Lydda bei Tel Aviv
John Ron in Berkeley heute,
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