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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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als solcher durch die Entwicklung der letzten Jahre gezwungen, einen neuen Erwerbszweig zu schaffen», der das ganze Jahr 1921 um das Recht kämpft, in den Kellerräumen des Gebäudes seine Schokoladenfabrik unterzubringen. Der Hauptmann taucht in regelmäßigen Intervallen auf, wie das Teufelchen aus der Schachtel.
    Und während ich all diese anscheinend belanglosen Informationen Stück für Stück aneinanderfüge, mir einen Weg durch dieses Gewirr gewöhnlicher Ereignisse und das Getuschel von Gehsteiggesprächen bahne, ersteht vor meinen Augen ganz langsam, ohne dass ich den Rhythmus dieser Rekonstruktion beeinflussen könnte, meine Straße wieder auf. Ich sehe zu, voller Demut. Die Vergangenheit koppelt sich an die Gegenwart an.
     
    1904 erwerben mehrere Bauherren bei der Berlinischen Boden-Gesellschaft eine Parzelle und nehmen die Arbeiten ihres
Neubaus
in Angriff. Sie reichen bei der Königlichen Baupolizei zu Schöneberg ihren
Lage-Plan
ein «mit der ergebenen Bitte, denselben hochgeneigtest genehmigen zu wollen».
    Auf einem hostiendünnen Papier steht mit schwarzer Tinte der Vermerk: «Die hier mit roter Tusche kolorirte und schraffirte Fläche bebauen will». Der Königl. Regierungsgeometer a.D., W. v. Frankenberg, vereideter Landmesser Berlin, hat seinen runden blauen Stempel aufgedrückt. Auf der rechten Seite des Planes ist mit der Hand die Flächenberechnung eingefügt. Die Großbuchstaben
L
und
P
von
Lage-Plan
sind wie die Anfangslettern in einem Märchenbuch mit geflochtenem Efeu verziert. Und genau wie ein Märchen beginnt die Geschichte meiner Straße ja auch.
    Es war einmal eine Handvoll Bauherren, eitel wie die Pfauen, die wünschten, hier auf Erden ihre Spur zu hinterlassen und bei derselben Gelegenheit ihr taufrisches Geld im Stein zu platzieren. Also errichteten sie – innerhalb zweier Jahre ungefähr – Renditehäuser, massive Mietshäuser, bestehend aus Keller, Erdgeschoss, vier Stockwerken, zwei Wohnungen pro Etage, einem hohen Dachstuhl und einem Trockenboden, der der obersten Etage ein angenehmes Klima garantiert. Die Wohnungen haben sieben oder acht, gelegentlich zehn Räume. Eine schwindelerregende Raumflucht: Wohnzimmer oder Salon, Stube, Speisezimmer, Boudoir, Balkon, Herrenzimmer, Erker, Schlafzimmer, Bad und Toilette, winzige Mädchenzimmer, Speisekammer. Die Gebäude werden so angelegt, dass in jeder Wohnung im vorderen Teil die Herrschafts- und Repräsentationsräume untergebracht sind, im hinteren Teil die Schlafzimmer, die Küche und die Zimmer der Dienstboten. Es gab also keine kleineren Wohnungen in den Quergebäuden im Hinterhof für bescheidenere Mieter.
    Die Architektur der Wohnungen respektiert diese horizontale Hierarchie: Pracht nach vorne. Schlichtheit nach hinten. Je tiefer man in die Wohnungen eindringt, umso mehr schrumpfen die Räume, umso mehr senken sich die Decken und umso spärlicher wird das Licht. Hohe Doppelfenster in den vorderen, kleine einfache in den hinteren Räumen. Deckenstuck vorne, weiße Kalkwände hinten. Gebohnertes Eichenparkett vorne, aus starken Kiefernbrettern genagelte und mit Ölfarbe angestrichene Diele hinten. Die Köchin und das Kinderfräulein leben kümmerlich neben der Küche im Hintergrund der Wohnung in einem engen Zimmerchen, das im Übrigen eher einer Abstellkammer gleicht. Eine kleine gesonderte Dienstbotentreppe ist für sie reserviert. Sie führt in den Hinterhof. Das Berliner Zimmer bildet eine hermetische Schleuse zwischen diesen zwei unterschiedlichen Lebensbereichen und markiert die Grenze zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Die bürgerliche Klientel meiner Straße verarmt während der Inflationsjahre. Die Dienstmädchen werden entlassen. Man weiß nicht mehr wohin mit so vielen Räumen. Erst in den dreißiger Jahren werden die Hauseigentümer bei der Baupolizei die Genehmigung einreichen, Trennwände aufzuziehen, um diese immensen Wohnungen zu halbieren, deren Miete niemand mehr aufbringen kann.
     
    Die Gebäude verfügen über einen «sehr guten Höchstkomfort» und die neueste Technik: Bäder, Klappentopf-Klosetts, Kettenjalousien, gemalte äußere Blechlambrequins, Doppelfenster, die vor Kälte, großer Hitze, Durchzug, Lärm und Staub schützen, elektrisches Licht, Fahrstühle, Zentralheizung und Zentralstaubsaugeranlage. Die Vorgärten – «mit einem auf höchstens 0 , 50  m hohem Steinsockel ruhenden zierlichen Eisengitter zu umgeben und als Ziergarten sorgfältig anzulegen und zu unterhalten» –

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