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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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Straße wider. Unter den meistvertretenen Berufen haben die Kaufleute (von denen man mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass ihr Vermögen noch relativ frisch ist) eine schöne Länge Vorsprung vor dem Trupp der Rentiers, Privatiers und Beamten (Eisenbahn, Bank, Ritterschaft), Prokuristen, Rechtsanwälte und dem Regiment der Militärs, sämtlich Offiziere (Generalleutnant z.D. Exz. C. Schüler in der Nummer  3 , Generalleutnant M. von Haustein in der Nummer  5 , Leutnant K. Pecher in der Nummer  7 , Oberstleutnant a.D. B. von Haine in der Nummer  9 und Kapitän Leutnant H. Zenker in der Nummer  27 ). Folgen eine Handvoll Ärzte und Apotheker, mehrere Direktoren, Architekten und Buchhalterinnen (in der Nummer  2 findet sich sogar ein Buchhalterinnen-Geschwisterpaar Walschulzick), eine stolze Schar Witwen (ich habe acht gezählt, und das zu einem Zeitpunkt, da die beiden Kriege die Straße noch nicht dezimiert haben) und Fräuleins unbestimmten Alters. Jedes Haus toleriert aber auch solide Gewerbetreibende und sogar ein paar heute verschwundene kleine Metiers in seinen Mauern: B. Homuth, Plätterin in der Nummer  4 . O. Weiland in der Nummer  5 und A. Ohde in der Nummer  23 , beide Seifenhändlerinnen. W. Seegert, Eisenwarenhändler, in der Nummer  7 . Vier Tischlermeister, zwei Malermeister, ein Schuhmachermeister, ein Schmiedemeister, ein Bäckermeister, ein Milchhändler, ein Tischler, eine Hebamme, eine Modistin, ein Kellner, ein Straßenbahnschaffner und ein eigentümlicher A. Königsmann, Hühneraugen-Operateur, in der Nummer  25 . Meine Straße schmückt sich auch mit ein paar Schauspielerinnen und zwei Schriftstellern (H. Dietzsch in der Nummer  4 und J. Fraenkel in der Nummer  23 ), zwei Sängerinnen (A. Stubel in der Nummer  16 und F. Lederer-Prina in der Nummer  26 ) und dem Pianisten O. Bake (sprechen Sie «Baakö»), ebenfalls in der Nummer  26 . Unbedeutende Künstler, deren Namen – soviel ich weiß – nicht in die Nachwelt eingegangen sind. Und als Zeichen des Wohlstands sind im Adressbuch zahlreiche Namen mit einem fetten großen T gekennzeichnet, die Besitzer eines Telefons. Auch manche Eigentümer wohnen im Haus wie Max Moniac in der Nummer  26 , der die Liste der Personen aufstellt, die berechtigt sind, selbständig und ohne Führerbegleitung den Fahrstuhl zu benutzen: «Herr Chefredakteur Max Wolf, Herr Leutnant Carl Gronewaldt, Herr Dr. phil. C. Fischer …» 1907 existiert noch eine Osmose zwischen dem Stein und den Mietern … Der Aufstieg kommt im Bauwerk zum Ausdruck.
    Die Möbelpacker bringen die wuchtigen Buffets, die gigantischen Schränke, die Klaviere, die eingerollten Teppiche, die schweren Wandbehänge, Lüster, Stehlampen, die Leder-Clubsessel, Rauchtische, Teewagen, Standuhren, Ausziehtische, Frisiertoiletten mit Hocker, Betten mit dreiteiligen Rosshaarmatratzen, Chaiselongue mit Decke. Zimmerpalmen. Haufenweise Nippes. Über die teuren Tapeten werden die Altmeister-Ölgemälde (Kopien aus der Dresdner Galerie) in ihrem schweren Holzrahmen gehängt. Blütenweiße Tüllgardinen schützen die dunkle Intimität vor indiskreten Blicken von der Straße. Die neuen Hausherren stellen den Kanon der deutschen Literatur und die vierundzwanzig Bände von Meyers Konversations-Lexikon in ihre herrlichen Bücherregale. Ihre Gemahlinnen arrangieren die Pfingstrosen in den Vasen, und das Mädchen für alles poliert das Tafelsilber.
     
    Die Bauherren bauten für die Ewigkeit. Sie glaubten an den Fortschritt und an die Technik. Sie konnten sich keine Sekunde lang vorstellen, wie bald das Glück sie im Stich lassen würde. Es schien, als könnte die Zeit, als könnten der Zerstörungswahn, der Europa zweimal hintereinander verwüsten würde, all die Wechselfälle des menschlichen Lebens meiner Straße nichts anhaben. Als ob die Backsteine, Dachstühle und Ziegel die Macht hätten, sie vor Unglück zu bewahren. Doch als die Arbeiter 1914 in den Krieg zogen, kam der Immobilienboom brutal zum Erliegen. Unzählige Facharbeiter, die auf der Baustelle von 1904 tätig waren, sind nicht von den Schlachtfeldern an der Somme oder bei Verdun zurückgekehrt. Während der Jahre der Finanzkrise, der Inflation und der Arbeitslosigkeit zwischen den beiden Kriegen ging es mit dem Bauzustand aus der Kaiserzeit stetig bergab. Die Fassaden bröckelten. Der Stuck wurde nicht repariert. Bereits in den Zwischenkriegsjahren bewerteten die Adepten des Bauhauses ihn als

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