Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
erlauben es den Bewohnern der Gebäude, etwas abseits von der Straße zu bleiben: Wir mischen uns nicht mit dem einfachen Volk auf dem Gehsteig, und vor allem tolerieren wir nicht den Laden eines Kohlehändlers im Hintergeschoss. Wehe dem, der dieses stillschweigende Reglement verletzt und den Vorgarten als Lagerplatz benutzt. Ein
Portier
, wie damals der Hauswart genannt wird, bringt das distinguierte Sahnehäubchen an. Das aus dem Französischen entlehnte Wort verleiht dem bescheidenen Metier einen gewissen Schick. Von seiner Loge (Portiersküche, Schlafstube, Bad und Klosett) im Erdgeschoss aus überwacht der
Portier
das Kommen und Gehen. Schließlich soll es in diesen Gebäuden nicht wie in einem Taubenschlag zugehen.
Ich habe im Laufe der vielen Stunden, die ich in Gesellschaft der Bauherren meiner Straße verbrachte, eine wahre Zärtlichkeit für sie entwickelt. Für den Kaufmann Robert Bär (Nummer 17 ), den Fabrikanten Richard Barth (Nummer 6 ), den Hugenotten Max Emile George Moniac (Nummer 26 ), Inhaber der Firma Grün & Moniac, gegründet 1881 , Ingenieure und Fabrikanten für Be- und Entwässerung- und Gasleitungs-Anlagen, Zentralheizungen, für Carl Haumann (Nummer 2 ), Inhaber des Spezial-Baugeschäfts für feuersichere Zementkonstruktionen, Zementdecken, Steindecken, Fliesenbeläge und Kachelwandbekleidungen, für die Architekten Robert Zetschke (Nummer 22 ), Paul Jatzow, Hausarchitekt von Georg Haberland (Nummer 17 und 26 ), Walter Zander (Nummer 6 ) und Carl Graf (Eckparzelle auf dem Platz). Es sind Emporkömmlinge, durch die rasante Entwicklung der Gründerjahre zu schnellem Geld gekommen. Haben meine Bauherren von den Reparationszahlungen profitiert, die Frankreich an das neue Reich entrichtet hat? Dieses finanzielle Manna wurde zum Aufbau der neuen Hauptstadt verwendet. Möglicherweise ist meine Straße also in gewisser Weise eine französische Straße, indirekt von meinen Ahnen finanziert. Diese Hypothese gibt meiner Präsenz hier eine gewisse Legitimität.
Die Bauherren rivalisieren untereinander. «Auf die Gestaltung der Fassaden der einzelnen Häuser», schreibt Georg Haberland, «war zu jener Zeit durch den Geländebesitzer nur schwer Einfluss auszuüben. Die Bauunternehmer waren zum großen Teil selbst Architekten und daher natürlich bemüht, ihren Häusern das Gepräge zu geben, das ihrem künstlerischen Geschmack entsprach.» Die Straße ist eine reine Plattform zur Präsentation ihrer prunkvollen Fassaden. Auf den safrangelben, von roher Leinwand verstärkten Plänen sind Giebel und Erkertürmchen, Gesimse und Stuckfestons zu sehen, Verzierungen, von denen heute fast nichts mehr übrig ist. Die Fassaden gleichen sich, und doch ist keine genau wie die andere. Jeder Bauherr setzt eine persönliche Note, fügt eine winzige Variation an: einen Erker, eine Wetterfahne, ein ovales Ochsenauge, einen Fries, eine Rosette, ein Blumenmotiv, eine Säule, ein barockes Element, da eine mythologische Figur, die sich unter einem Balkon vor dem Regen schützt, dort zwei Putten mit prallen Pobacken, die sich über einem Arkadenvorbau rekeln.
Vor allem aber bei der Eingangshalle, «Vestibül» oder «Entré» genannt, ohne zweites «e» am Ende, lassen die Bauherren ihrer Phantasie freien Lauf. Das prächtigste
Entré
ist das der Nummer 3 , ganz aus weißem Marmor und mit Spiegeln, Kassettendecke, Pilastern, einem kleinen Kamin und gipsernen Frauenköpfen an den Wänden. Eine kleine Marmorbank erlaubt es den Betagten, Atem zu schöpfen, bevor es ans Erklimmen der Stockwerke geht. In der Nummer 26 wird die Hand am Ende des Treppengeländers von dem weit offenen Maul eines hölzernen Löwen angehalten, und die Wände sind mit dunklem Marmor ausgekleidet. Ein besonders großzügiges
Entré
hat die Nummer 25 . Über den Spiegeln Pflanzenmotive, antike Köpfe und zwei Schwäne mit gebogenem Hals. Die Treppen sind breiter als gewöhnlich. Dagegen wirkt das
Entré
der 12 mit den bemalten Holztafeln, dem Boden aus Terrazzo-Marmor und der kleinen schmalen Treppe aus gewöhnlichem Holz geradezu bescheiden.
Und dann kommen die Schwalben und bauen ihr Nest unter den Dachrinnen, der Efeu klettert über die Entwässerungsleitungen, und die neuen Mieter treffen ein mit ihren sperrigen Anhängseln, Doktor oder Professor, ihren militärischen Graden, ihren Aktienpapieren und ihren einflussreichen Beziehungen. Das Berliner Adressbuch aus dem Jahr 1907 spiegelt die soziale Homogenität meiner
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