Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
altmodisch und überladen. Zu viel Schnickschnack! Zu üppig! Von 1943 bis 1945 zerschlagen die Bomber die Illusionen in Millionen Splitter. Zwei Jahre hat es gebraucht, um meine Straße zu bauen, und zwei, um sie zu zerstören. Aber halt, nicht so schnell! So weit sind wir noch nicht! 1904 malt niemand die Zukunft schwarz.
Lilli Ernsthaft, unsere Straßenälteste
Lilli Ernsthaft hebt sich in vielerlei Hinsicht von den meisten anderen Anwohnern ab. Ihr Mann Heinrich, ein Österreicher, wohlhabend, Eigentümer der Firma Ernsthaft und Co., Bier Import, ehemaliger Wiener Operettensänger, der einen Benz fuhr und einen Fahrer, zwei Dienstmädchen sowie einen Klavierstimmer beschäftigte, war der erste Mieter der Straße. Heinrich Ernsthaft bezog 1905 das zweite Obergeschoss rechts der Nummer 3 , eine Wohnung mit sieben Zimmern, die viel zu groß für ihn war. Die Wände rochen noch nach frischer Farbe. Die Straße war nicht fertig. Eine riesige Baustelle.
Einige Jahre später, am Freitag, den 13 . September 1922 , ein unheilverkündender Regentag, vermählte sich Lilli, geborene Doller, um 8 Uhr morgens im Rathaus Schöneberg mit Heinrich Ernsthaft. Dem Standesbeamten wurde ein Kasten Tucher-Bier versprochen. Nach der Trauung fuhr das frischgebackene Ehepaar per Taxe zur Wohnung von Heinrich Ernsthaft. Beim Aussteigen merkte Lilli, dass sie ihren Schirm auf dem Standesamt stehengelassen hatte. Aber kein Grund zu Panik: «Wir waren so wenig abergläubisch, wie schon das Datum unserer Trauung beweist, dass wir zum Standesamt zurückfuhren und den Schirm holten.»
Eine unkomplizierte Liebesgeschichte. Sie lernten sich bei Freunden kennen, sahen sich danach jeden Morgen bei der Straßenbahnhaltestelle der Linie 62 . Lilli war Stenotypistin. Heinrich Unternehmer. Auf dem Weg zur Arbeit sang sich Heinrich in Lillis Herz ein. Er hielt um ihre Hand an. Das Hochzeitsmahl in kleinem Kreis wurde im Esszimmer mit den samtbespannten Wänden des Ehemanns gereicht. An jenem Abend legte sich Lilli, sehr jung und schüchtern, zum ersten Mal in das große Ehebett. In dieses Bett, aus dem die Sanitäter am 7 . August 2001 , einen Monat vor dem 9 / 11 , ihren kleinen verschrumpelten Körper hoben. Sie hatte 79 Jahre an derselben Adresse gelebt. Bis zu ihrem Tod im hohen Alter von 98 dreiviertel Jahren war sie unsere Straßenälteste gewesen. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten mit ihr unsere Hundertjährige gehabt.
Lilli Ernsthaft schlug sämtliche Rekorde. Sie war nie besonders stolz darauf, war sich des privilegierten Platzes, den sie auf der Ehrentafel unserer Straße einnahm, wohl nicht einmal bewusst. Diese uralte Dame mit den schlohweißen Haaren und dem faltendurchzogenen Gesicht, die in ihren letzten Lebensmonaten im Dämmerlicht ihres Berliner Zimmers ans Bett gefesselt blieb, war die letzte Überlebende einer für immer verschwundenen Zeit. Ja, so pathetisch es klingt: Sie war das Gedächtnis unserer Straße.
Lilli Ernsthaft pries vor ihren zahlreichen und treuen Besuchern gern das goldene Zeitalter unserer unprätentiösen Straße, die indes, wie sie nie zu erwähnen vergaß, nicht an die Prachtstraßen der großen europäischen Metropolen heranreichte. Ihr Spitzenreiter war Unter den Linden, «das heißt, so wie sie sich früher darstellte, als noch der Kaiser und der Kronprinz da residierten», dicht gefolgt von den Champs-Élysées – beides Repräsentationsstraßen, die den Ruhm ihrer Länder demonstrieren sollten, nicht zuletzt durch die Siegesparaden, die auf ihnen in reicher Fülle stattfanden. Dagegen war die Parade der Bäckermeister natürlich nichts als ein billiger Abklatsch.
Lilli Ernsthaft erzählte vom Anfang des letzten Jahrhunderts. Sie erzählte von dem ständig sich verneigenden kleinen Porzellanchinesen im Schaufenster des Chinaladens hinter dem neuen Warenhaus Wertheim in der Leipziger Straße. Wertheim, größer als Harrods! Größer als die Galeries Lafayette! Endlich konnte es die neue Hauptstadt den alten europäischen Metropolen zeigen. Sie erzählte vom Engros-Geschäft für Perserteppiche, Gemälde und Bronzen ihres Vaters, eines österreichischen Juden aus Lemberg. Von der ersten elektrischen Straßenbahn, die im Jahr ihrer Geburt gebaut wurde, und der Hochbahn am Nollendorfplatz, die, als sie sechs oder sieben war, zur Untergrundbahn wurde. Kurz vor dem Winterfeldplatz verschwand sie in einem Tunnel. «Ein wahres Schauspiel!» Sie erzählte von dem Foto von ihr
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