Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
das Schicksal von Gert und Karin weit mehr interessierte als all diese leicht kitschigen Sepiabilder der goldenen Zwanziger? Aber Lilli Ernsthaft ließ den dicken schweren Gewitterwolken, die sich am Horizont ihres Gedächtnisses zusammenzogen, keine Zeit, ins Zimmer einzudringen, sich vor die Leichtigkeit dieses Nachmittags zu legen, sie ließ sich die paar heiteren Stunden nicht nehmen, die ihr mein Besuch verschaffte. Sie vertrieb sie rasch mit Erinnerungen, die prickelten wie der Champagner am großen Silvesterball im Café Wien, als sie in den Armen Heinrichs zur neuen Musik von der anderen Seite des Atlantiks herumwirbelte. Onestep, Twostep, Quickstep, wie sie es in der Tanzstunde Fleischmann im ersten Stock des Theaters des Westens in der Kantstraße gelernt hatte. Abends übten Heinrich und Lilli die neuen Schritte in ihrem großen Salon.
Auf der Kommode hinter Lilli Ernsthaft entdeckte ich einmal einen kleinen Rahmen mit den Porträts zweier Kinder, Seite an Seite. Karin, eine Schleife in den Haaren und ein fröhliches Strahlen in den Augen, und Gert, ein sanftes Lächeln um die Lippen. Die Kutschera-Kinder lebten weiter, gut geschützt zwischen Fotos aus glücklichen Zeiten. Lilli Ernsthaft hat sie nicht vergessen. Aber statt ihrem Schicksal nachzuhängen, blätterte sie lieber in ihrem Adressheft weiter, ließ die Bekanntschaften und Freundschaften, die sie als verheiratete Frau zwischen den Kriegen pflegte, Revue passieren, die mit Titel und Ehren behängten Berühmtheiten, die sie frequentiert oder zumindest von weitem gesehen hatte … Die Dr. Hof- und Gerichtsadvokaten, die Frau Legationsrat, die Generaldirektoren und Kommerzienräte, die Nichte des
bekannten
Schriftstellers Oskar Blumental, den Dr. Lahmann, Direktor des Sanatoriums Weißer Hirsch in Dresden,
damals sehr berühmt!,
wo Heinrich jedes Jahr im Mai eine Regenerationskur absolvierte, den Baron von Tucher, Eigentümer der Brauerei Tucher, die sie
mit großer Herzlichkeit
aufgenommen hatte, den Heldentenor Franz Völker und seinen Sohn, den Kammersänger Georg Völker, Frau Dr. Steiner, die Schwester von George Grosz … Alle diese Akteure des
sehr abwechslungsreichen Privatlebens
von Lilli und Heinrich Ernsthaft. Sie schmeichelte sich sogar damit, bei der letzten Station ihrer Hochzeitsreise, im Hotel Fürstenhof von Nürnberg, in derselben Wanne mit vergoldeten Armaturen gebadet zu haben wie der Kaiser Wilhelm ein paar Jahre vor ihr. Die Eitelkeit siegte über den Ekel, der beim Gedanken an die körperliche Intimität, die sie im Seifenwasser mit einem alten fetten Kaiser mit erschlafftem Fleisch geteilt hatte, in ihr aufstieg.
Die schönste Trophäe der Lilli Ernsthaft jedoch war Fritz Aschinger, einer der besten Kunden ihres Mannes. Man lernte sich im Weinhaus Rheingold an der Bellevuestraße in der Nähe des Potsdamer Platzes, dem gefragtesten Restaurant der Stadt, «privat kennen». Fritz Aschinger war Inhaber des größten Hotel- und Gastronomiekonzerns Europas. Lilli erzählte vom Geniestreich ihres Freundes: «Die Hunderte von Stehbierhallen, wo man für einen niedrigen Preis eine köstliche Erbsensuppe bekam, zu der man so viele Brötchen essen konnte, wie man wollte.» «Beste Qualität bei billigstem Preis!» hieß der Slogan des Hauses Aschinger, das sich den neuen, beschleunigten Rhythmus der Kapitale zu eigen machte. Die Angestellten kehrten zum Mittagessen nicht mehr nach Hause zurück. Man musste schnell und billig essen und satt vom Tisch aufstehen. Zum Aschinger-Imperium gehörten auch die feinsten Hotels Berlins, wie das Bristol Unter den Linden, das Palast-Hotel am Potsdamer Platz, das Hotel Kaiserhof und das Fürstenhof gegenüber dem Haus Vaterland. «Im Hotel Fürstenhof», erinnert sich Lilli, «haben wir bald nach unserem Kennenlernen jeden Sonnabend zu Abend gegessen, und zwar gab es als Vorspeise immer Kaviar und als Nachspeise immer Crêpes Suzette, die am Tisch flambiert wurden.»
Lilli Ernsthaft erzählte von der Reise nach Montreux in ein
sehr nobles Hotel
mit Balkon über dem Genfersee: «Zum Frühstück trafen wir uns alle, das heißt Fritz Aschinger und seine in Italien lebende Schwester Frau Legationsrat Elisabeth Kermektchiew, mein Mann und ich, im Zimmer von Kommerzienrat Lohnert und seiner Frau. Wenn der Zimmerkellner das Frühstück gebracht hatte, schloss Herr Kommerzienrat die Tür ab, ging an seinen Schrank und entnahm ihm einen Koffer, in dem sich, man höre und staune, diverse
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