Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
sich. Wir waren zu der Zeit mit Freunden in Karlsbad. Eines Morgens saßen wir friedlich bei unserem Morgenkaffee, als durch ein offenes Fenster die Rundfunkstimme Hitlers ertönte. Schon sie allein hatte etwas Beängstigendes, obwohl wir natürlich nicht ahnten, was die Herrschaft dieses Mannes für uns bedeuten sollte. Nach dem Jahr 1933 ging es für uns stetig bergab. Wir waren Parias.» Nie erzählte sie von den entsetzlichen Zeiten, die sie durchgestanden hat. Sie hatte eh nichts übrig für «diese Manie des deutschen Fernsehens, das sich gezwungen fühlt, jeden Abend den Holocaust aufzuwärmen. Jedes Mal weckt das meinen Kummer.» Nur am Abend, wenn sie allein vor dem Fernseher saß und in den Tagesthemen – «Krimis und Pornos lehne ich ab! Hin und wieder tue ich mir eine Talkshow an» – die Horden von Skinheads Anfang der neunziger Jahre in den ostdeutschen Städten vorbeidefilieren sah, bekam sie Angst. Und wenn es wieder von vorne losging?
Einzig in einem ledergebundenen Heft mit dem Titel «Mein Leben» erzählte sie von den dreißiger Jahren, dem Krieg und davon, wie sie selbst, ihr Mann Heinrich und ihr Sohn Harry im Dritten Reich überlebt hatten. Ihre Nichte Elga war eines Morgens aufgekreuzt, die Schreibmaschine unter dem Arm und ein energisches Lächeln auf den Lippen.
«Tante Lilli, es ist Zeit, deine Memoiren zu schreiben!»
«Wen außer dich soll denn das interessieren?»
«Ab jetzt komme ich jede Woche, und du diktierst mir deine Lebenserinnerungen in die Maschine!»
Elga, Lektorin bei Aufbau, dem großen DDR -Verlag, spürte, wie kostbar Tante Lillis Zeugnisse waren. Elga war sechzehn gewesen, als Harry eines Morgens im Haus ihrer Eltern in Johannisthal aufkreuzte. Er hatte den gelben Judenstern von seiner Jacke gerissen und war aus dem Clou geflohen, einem großen Tanzlokal in der Friedrichstraße, wo die Juden im Rahmen der «Fabrikaktion» am 27 . Februar 1943 vor dem Abtransport nach Polen versammelt wurden.
Jede Woche hörte man aus der Wohnung im zweiten Stock das Tack-tack-tack der Schreibmaschine. Tack-tack-tack … Mit Pausen, Stockungen, Sprüngen, plötzlichen Aussetzern, dann wieder langen Strecken regelmäßiger Anschläge. Elgas Finger hüpften und stolperten über die Tasten. Sie hatte es eilig. Sie hatte Angst, nicht mithalten zu können, von den Erinnerungen überholt zu werden, die Tante Lilli, zum ersten Mal, heraussprudeln ließ. Tack-tack-tack … Der Aufstieg der Nazis: « 1937 muss Heinrich, als die politischen Verhältnisse ihn zwangen, sein Geschäft für einen lächerlichen Betrag an einen seiner Mitarbeiter verkaufen. Das Geld ging auf ein sogenanntes Sperrkonto, von dem er nichts abheben durfte.» Der Anschluss Österreichs im März 1938 : «Nun waren wir plötzlich deutsche Staatsangehörige und unterstanden voll und ganz den deutschen Behörden, und alle schrecklichen, auf die Juden bezogenen Verfügungen galten nun auch für uns.»
Sie erzählte von dem Schmuck und den drei großen Kartons mit Silbergegenständen, die sie bei der Pfandleihanstalt zwangsabliefern musste. Ihre echte Perlenkette! Ihre mit kleinen Brillant- und Saphirsplittern besetzte Platinuhr, deren Armband aus fünf Reihen weißer und schwarzer Perlen bestand! Ihre goldene Damentasche mit Saphircabochonverschluss! Heinrichs goldene Manschettenknöpfe aus vier Louis-d’or-Münzen! Und seine goldene Zigarettendose! Die zwei silbernen Konfektschalen, als Wagen und Schlitten gearbeitet, und das komplette Chippendale-Silberbesteck für 12 Personen plus eine Suppenkelle, ein Tranchierbesteck, zwei Fleischgabeln, einen Gemüselöffel, einen Soßenlöffel, ein Butter- und ein Käsebesteck! Die städtische Pfandleihanstalt zahlt ihr für die Stücke einen völlig lächerlichen Betrag.
Lilli Ernsthaft erzählte von den Lebensmittelkarten, die es ab Kriegsausbruch gab und mit einem «J» gekennzeichnet waren. Die Juden erhalten keinen Fisch und kein Fleisch. Und an Juden dürfen nur «Grobgemüse», Kohlrüben, Weißkohl usw. verkauft werden. Und auch das nur zu vorgeschriebenen Zeiten. Sie erinnert sich, als sei es gestern gewesen, an die zwei SS -Leute, die eines Morgens an die Tür der Wohnung in der Nummer 3 klopften und vier Radioapparate mitnahmen (Firmen Blaupunkt, Loewe und Nordmende), einen Fotoapparat (Marke Kodak), den Zeiss-Ikon-Feldstecher, das Bügeleisen und die Heizsonne. Sie erzählt von dem Maulwurf- und dem Sealmantel, dem Zobel- und dem Blaufuchskragen, von denen
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