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Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)

Titel: Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascale Hugues
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stets gewusst? Vielleicht wollte man einem solch heiklen Thema lieber aus dem Weg gehen. Lilli Ernsthaft war die letzte Vertreterin des deutsch-jüdischen Bürgertums in meiner Straße. Die wie durch ein Wunder überlebt hat. Noch eine Medaille, die wir ihr hätten verleihen können. Wie man jene ehrt, die schwimmend den Ärmelkanal überquert oder auf dem Gipfel des Mount Everest ihre Fahne gehisst haben. Also klopfte ich, einen Rosenstrauß in der Hand und ein Baby auf dem Arm, an der Tür der alten Dame an. Sie empfing meinen Sohn und mich mit kleinen Freudenschreien: «Oh, ein Baby! Ein Baby bei Ernsthafts!»
    In der Wohnung der Lilli Ernsthaft schien seit den zwanziger Jahren die Zeit stehengeblieben zu sein. «Ein Möbelmuseum», hatte mich Frau Klemm vorgewarnt. Die Jugendstilscheiben der Loggia, die eingebauten Wandschränke mit Perlenleiste im Herrenzimmer, die Chippendale-Stühle und der kleine wackelige Rauchtisch, selbst der Geruch war antiquiert. In den Schränken überdauerte die Garderobe eines früheren Lebens: Cocktailkleider, Sommerkleider, Zwischensaisonkleider. Im Dielenschrank lagerte eine ganze Batterie von Handschuhen. Ein Paar zu jeder Handtasche. Als sie mich zum Kaffee empfing, reisten wir gemeinsam in der Zeit zurück. Lilli Ernsthaft plapperte drauflos, bot mir Konfekt an, schmückte ihre Erzählung, wie man ein Spitzendeckchen mit einer Rankenwinde bestickt, mit altertümlichen Höflichkeitsfloskeln aus. «Sie naschen nicht, gnädige Nachbarin?» «Tout le plaisir est pour moi, Madame!» (Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite, Madame.) Ihr Vergnügen bestand vor allem darin, mir diese Formel auf Französisch zu offerieren. «Frau Ernsthaft spricht das Deutsch der Weimarer Republik», amüsierte sich Frau Klemm. Sie trug oft ein wassergrünes Kleid mit breiten Ärmeln, in denen sie, wenn sie das kochende Wasser über das Nescafé-Pulver in der Tasse goss, wie ein flatternder Schmetterling aussah. Sie zittere zu sehr und sei zu schwachsichtig, um richtigen Kaffee zu machen, entschuldigte sie sich. Und an den Füßen stets Pumps mit Absätzen. Einmal wöchentlich kam eine redselige Dame vorbei, die sie mit einer Maniküre und einem Wörterschwall versorgte. Kunigunde Fritze legte einen himbeerroten Lack auf Lilli Ernsthafts Fingernägel, als gälte es, ihre von breiten, tintenblauen Adern durchzogenen Hände etwas aufzumuntern.
    Wenn Lilli Ernsthaft empfing, hatte sie ein wenig den Eindruck, die sonntäglichen Mittagessen aufleben zu lassen, als das Ehepaar Ernsthaft und ihr Sohn Harry Ende der zwanziger Jahre beim Ehepaar Kutschera und ihren Kindern Gert und Karin eingeladen waren. Die Kutscheras waren die Eigentümer des Café Wien auf dem Kurfürstendamm, Billardsaal im ersten Stock, Kapelle auf der hinteren Empore, daran angrenzend die Filmbühne Wien und der spätere Zigeunerkeller, eine der Attraktionen Berlins, «wo ungarische Geiger das gute Essen mit Musik begleiteten». Karl Kutschera, ein ungarischer Jude, und seine Wiener Frau Josephine, genannt Pipi, waren steinreich. «Sie besaßen in Kladow eine wunderschöne Villa an der Havel. Das Besitztum der Kutscheras war riesig groß, hatte viele Gewächshäuser, Obstbäume, Spargelfelder, Himbeersträucher, Pferde- und Schweineställe und reichte von der Sakrower Landstraße bis zur Havel hinunter», zählte Lilli Ernsthaft auf. Sie fühlte sich geehrt durch diese Freundschaft.
    Danach ging man zum Kaffee in den Salon. Die Kinder saßen auf dem Teppich und spielten. Die Damen plauderten. Die Herren rauchten eine Zigarre.
    Einmal sagte mir Lilli Ernsthaft, während sie an ihrem Mandelkeks knabberte, ganz so, als wäre nichts, dass Gert und Karin «nicht aus Polen zurückgekommen» sind, dass nur ihre Eltern überlebt haben und «sie nie darüber hinweggekommen sind … Sie können es sich denken … Die Armen … Aber Sie nehmen doch bestimmt noch ein bisschen Kaffee, liebe Nachbarin?» Ein Schatten war in den kleinen Musiksalon geglitten, in dem sie mich an jenem Tag empfing, neben dem massigen Bechstein, der sich, weil er seit langem verstimmt war, als Abstelltisch für die Branntweinfläschchen nützlich machte. Meine Gastgeberin kam mir plötzlich so zerbrechlich vor. Ich war verlegen. Sollte ich die Augen senken? Nachhaken? Das fröhliche Anekdotengeplätscher, das Kuchengabelgeklimper auf dem Porzellan abrupt unterbrechen und damit zu bedeuten geben, dass alles bisher Gesagte oberflächlich, ohne jedes Interesse war und mich

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