Ruhige Straße in guter Wohnlage: Die Geschichte meiner Nachbarn (German Edition)
im Matrosenkleid, das ein gewisser Hoffmann im Schaukasten seines Ateliers ausgestellt hatte. «Er wurde später Hitlers Leibfotograf!» Ich habe nie erfahren, ob diese Tatsache sie entsetzte oder ihrer Eigenliebe schmeichelte. Und sie konnte – achtzig Jahre später – noch immer die Verse auswendig, die Herr Brockmüller aus Bremen, ihr Kurschatten in Bad Oeynhausen, für sie schmiedete und ins Mokkatässchen schmuggelte, das er ihr geschenkt hatte:
«Aus diesem Tässchen, mein schönes Kind,
Trinke jeden Morgen
Den Mokka so heiß, wie Liebe glüht,
Dann hast Du keine Sorgen.
Zumal Du dann stets des Freundes gedenkst,
Der im Bade Dich lernte verehren
Und der auch ein solches Tässchen lenkt
An seine Lippen, die nach Deinen begehren.»
Herr Brockmüller war nicht der einzige abgeblitzte Verehrer. Lilli Ernsthaft war, wie mir alle bestätigten, die sich noch an sie als junge Frau erinnerten, eine klassische Schönheit, die schönste Frau unserer Straße.
Es gab vor dem Krieg in meiner Straße viele von ihnen, von diesen Prinzessinnen aus gutem Hause, die für die harten Zeiten so schlecht gerüstet waren, die das Schicksal ihnen bereithielt. Sie waren von zarter Gesundheit, trugen champagnerfarbige Schnürschuhe, Popelinkleider mit Tüllkragen, Florentiner und machten, wenn sie die Freundinnen ihrer Mütter begrüßten, einen tiefen Knicks. Ihr Leben war ein fröhlicher Reigen aus Kurparkpromenaden, Klavier- und Tennisstunden, Tanztees mit Kapelle von fünf bis sieben und Operettentheater, wo «Walzertraum» und «Wiener Blut» gegeben wurden.
Frau Klemm war es, die letzte Apothekerin der Straße, bevor die Kaiser-Barbarossa-Apotheke in der Nummer 26 ihre Tore schloss, die mir zum ersten Mal von ihrer alten Freundin Frau Ernsthaft erzählte. Einmal pro Woche überquerte Frau Klemm die Straße, um bei Frau Ernsthaft in der Nummer 3 Rommé zu spielen. Frau Klemm brachte die Kuchen mit. Frau Ernsthaft sorgte für Kaffee und ein Gläschen Damenlikör.
Seit einiger Zeit war das Gebäude in Aufruhr. Der Psychoanalytiker aus dem ersten Stock versuchte die Bewohner zu mobilisieren, um in der Eingangshalle einen «Stillen Portier» anzubringen, eine holzgerahmte Erinnerungstafel mit den Namen der dreizehn aus dem Gebäude deportierten Juden. Mehrere Monate lang lieferte man sich in der Nummer 3 von einem Stock zum anderen einen kleinen Erinnerungskrieg. Der Psychoanalytiker mahnte: «Wenn man sogar die Namen vergisst, bleibt gar nichts mehr!» Die Mieterin aus dem Dritten weigerte sich, weiterhin das Wort an ihre Nachbarn zu richten. «Es stößt mich ab, in einem Haus zu wohnen, in dem es dank der Indifferenz ihrer Mitbewohner möglich war, dreizehn Juden in den Tod zu schicken! Ich schäme mich für diejenigen unter uns, die sich nicht an dieser Initiative beteiligen wollen und damit die Hinterlassenschaft der Nazischergen weiterführen!» Der Hauswart brachte seine Besorgnis zum Ausdruck: «Eine Tafel bringt das ganze Gebäude in Gefahr. Stellen Sie sich die Graffiti der Neonazis vor, wenn sie merken, was bei uns los ist!» Der alte Sauertopf aus dem Vierten knallte die Tür zu: «Ich gebe keinen Cent!» Die einen beschuldigten die anderen der Verdrängung, «Deckel drauf und weiter so!» Die anderen hielten den einen ihren Moralapostelton und den von morgens bis abends zum Himmel erhobenen Zeigefinger vor. Ich war eben erst in Berlin angekommen, und dieser Streit illustrierte für mich das unlösbare Problem, das die Deutschen mit Deutschland haben. Am Tag der kleinen Zeremonie schob Frau Klemm Frau Ernsthaft in die erste Reihe, während die Repräsentanten des Bezirks mit Ermahnungen aufwarteten, «um nie mehr zu vergessen». Der Eigentümer bedauerte, an diesem Tag nicht dabei sein zu können, und ließ seine Glückwünsche übermitteln. Der Psychoanalytiker legte einen Kranz nieder: «Wir hoffen, dass dieser Stille Portier, wenn beim Vorbeigehen der Blick auf ihn fällt, dazu anregen wird, eine heilsame Trauerarbeit in Gang zu setzen.» Danach ging man in dem griechischen Restaurant an der Ecke etwas trinken. Wie nach einer Beerdigung.
Niemand in meiner Straße wäre auf die Idee gekommen, dass die kleine, stets tadellos gekleidete alte Frau aus der Nummer 3 Jüdin war. «Sie hat es nicht rausgestellt», kommentierte eine Nachbarin, die allerdings wusste, dass «Frau Ernsthaft einen jüdischen Kerzenhalter im Wohnzimmer hatte». Oder wussten es alle, haben es nach dem Krieg alle
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